Flaschendrehen furioso: Roman (German Edition)
eine Lektion erteilt.
Der Amtsarzt war erstaunlich schnell gekommen und hatte ihnen attestiert, was sie längst schon wussten.
Saalfeld war eines natürlichen Todes gestorben. Auch wenn man eine Dose mit hochgiftigen Pillen gefunden hatte, so war es der ersten Untersuchung nach ein bösartiger Krebs, der Saalfelds Körper schon vor langer Zeit befallen und unbesiegbar dahingerafft hatte. Der Befund, den sie bei Saalfelds persönlichen Sachen gefunden hatten, bestätigte dies. Saalfeld musste davon gewusst haben, davon, dass er keine Chance mehr hatte.
Kurz vor dem Ende hatte er es Elli gestanden, hatte sie eingeweiht, weil sie ihm bei etwas helfen sollte. Er war in seine Villa gekommen, um dort allein zu sterben. Niemanden hatte er bei sich haben wollen, denn er hatte niemanden. Beinahe sein ganzes Leben lang war es so gewesen. Wieso hätte es am Schluss anders sein sollen? Sosehr er sich anfangs geärgert hatte, plötzlich mit einer Horde wilder Fremder im Haus zu sein, so dankbar war er am Schluss gewesen, in seinen letzten Stunden doch nicht allein zu sein. Er hätte eine unglaubliche Wut auf das Leben oder das Schicksal haben müssen. Nicht nur, weil es ihm so einen schmerzvollen Tod bescherte, sondern vor allem, weil ihm erst kurz vor seinen letzten Atemzügen eine Tochter präsentiert wurde. Doch, so hatte er Elli erklärt, man hätte ihm kein schöneres Geschenk zum Abschied machen können. Schon vor Monaten hatte er sich damit abgefunden, dass seine Zeit abgelaufen war. Den Gedanken, gegen diese Unumstößlichkeit anzukämpfen, hatte er schon längst aufgegeben. Dass ihm plötzlich eine Tochter gegeben wurde, war der größte Trost, den ihm das Leben schenken konnte. Es besänftigte ihn, mit allem, für immer. Dann hatte er Elli gebeten, für ihn ein Schreiben abzuändern und ein weiteres aufzusetzen.
Beide Schreiben hatte sie Tina vor einer halben Stunde gegeben. Elli wagte kaum, zu ihr hinüberzusehen.
Tina saß mit angezogenen Beinen weiter hinten im Garten, nicht unweit von der Stelle, wo sie tags zuvor ihre Yoga-übungen gemacht hatte. Die beiden Briefe lagen noch immer ungeöffnet neben ihr auf ihrer dunklen Jeansjacke im Gras.
Keiner konnte sagen, wie Tina sich fühlen mochte. Lutz traute sich am wenigsten an sie heran. Sie tat ihnen allen unglaublich leid.
Schon wollte Elli aufstehen und zu ihr gehen, als sie sah, wie Tina den ersten Brief öffnete und zu lesen begann. Selbst Elli musste weinen.
Tina hielt die letzten Zeilen ihres Vaters in den Händen. Sie fror, obwohl die Sonne kräftig schien. Der Boden war noch immer feucht, und es schüttelte sie am ganzen Körper.
»Liebe Tina, Geschenk des Himmels. Auch wenn wir uns nur so unbeschreiblich wenige Stunden kennenlernen durften, erfüllt es mich mit dem größten Glück, dass wir uns überhaupt gefunden haben. Fast alles habe ich in meinem langen Leben erreicht, aber das einzig Wichtige war mir nie vergönnt: eine Familie. Leer, ohne Sinn und gescheitert habe ich mich die letzten Jahre gefühlt. Am schlimmsten war es geworden, als ich begriff, dass meine Zeit sich dem Ende zuneigte.
Erst in meinen allerletzten Stunden habe ich Dich erleben dürfen, Dein Lachen hören dürfen, war es mir vergönnt, Deinen Atem zu fühlen, Deine Gedanken zu spüren und in Dein Herz und Deine Seele zu sehen. Gott, oder welcher Kraft auch immer, gehört meine größte Dankbarkeit.
Mir ist, als hätten wir uns ein Leben lang gekannt. Nie hätte ich mir eine bessere Tochter als Dich wünschen können. Es beseelt und versöhnt mich, dass es Dich gibt.
Kein Vater könnte stolzer und glücklicher sein, als ich es bin und immer bleiben werde. Du hast meinem belanglosen Leben einen Sinn gegeben.
Bitte verzeih Deiner Mutter, dass sie uns nie zusammengeführt hat. Ich war nicht immer ein einfacher Mensch. Sie hatte gute Gründe. Sie hat Dir geholfen, diese faszinierende Frau zu werden, dafür gebührt ihr unendlicher Dank.
Hadere bitte nicht mit unserem Schicksal, es scheint uns nicht immer gerecht oder fair, nicht selten hart und brutal. Aber uns Menschen entziehen sich viele Dinge, die trotzdem genau so sein sollen und müssen, wie sie sind.
Du wirst für mich weiterleben. Und wo immer ich auch sein werde, ich werde von dort aus meine beschützende Hand über Dich halten.
Leider konnte ich Dir nie ein Vater im klassischen Sinn sein. Deshalb möchte ich mit den wenigen Mitteln, die mir noch bleiben, dafür Sorge tragen, dass es Dir wenigstens nie wieder an
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