Flaschendrehen: Roman (German Edition)
mögliche Outfits für die Buchmesse markierten. Abgesehen davon, dass die meisten Outfits von irgendwelchen Laufstegen stammten, zur Haute Couture zählten und damit weder erhältlich noch bezahlbar waren, kam es mir vor allem auffällig vor, dass Michi sich immer Models und Kleider aussuchte, die komplett konträr zu ihrem eigenen Typ waren.
»Michi, ich denke, du solltest dir überlegen, was du ausdrücken möchtest, also welcher Typ du sein möchtest. Die Kleider, die du rausgesucht hast, sind sehr klassisch, elegant und eher was für die typische höhere Tochter. Du hingegen hast eine angesagte Frisur, trägst kleine schräge Designerlabel.«
Michi leuchtete der Einwand in gewisser Weise ein.
»Weißt du, eigentlich ist es mir egal, welcher Typ ich bin, Hauptsache, es gefällt Clemens!«
Gut, das war immerhin ein Ansatz, auch wenn er mich innerlich in den Wahnsinn trieb. Es wurde höchste Zeit, dass die Karten auf den Tisch kamen und ich nicht länger Clemens’ Verehrerinnen bei der Auswahl ihrer Garderobe beraten durfte, mittels der sie ihn ins Bett bekommen wollten.
Die beste Ablenkung hieß Arbeit, und so bereitete ich das Biennale Special vor. Ich hatte vor, keinen üblichen Festivalbericht abzuliefern, also welcher Film wann gelaufen war, sondern den Filmbetrieb hinter den Kulissen ins Visier zu nehmen und dazu lustige Rubriken zu erfinden. »Was trägt man am besten im Kino«, »Wie sehen Menschen aus, die Kritiker wurden, und woher kommen sie?« … plus einen Selbstversuch mit Foto, der dokumentierte, wie viele Filme man pro Tag schauen kann, wie man danach aussieht und ab wann die Aufnahmefähigkeit abnimmt.
Gegen neun ging ich nach Hause. So ein Abend allein hatte auch sein Gutes. In Ruhe lesen, Freunde anrufen oder stundenlang Fotos sortieren.
Normalerweise fand ich es angenehm, nach dem ganzen Trubel in der Redaktion, den klingelnden Telefonen, dauernden Gesprächen und Meetings meine Ruhe zu haben, aber heute funktionierte das einfach nicht.
Ich vermisste, nein, nicht Clemens, das war ja nichts Neues und würde sich so schnell auch nicht ändern, nein, mir fehlten vielmehr meine Freunde und meine Familie. Mir fiel auf, dass ich mit Sarah schon lange nicht mehr richtig etwas unternommen hatte, nur wir beide allein. Wenn wir uns getroffen hatten, dann nur kurz für gemeinsame Besorgungen oder um zum Fitness zu gehen, also lauter Dinge, bei denen man nicht gerade tiefgründige Gespräche führt. Mir war klar, dass die Geschichte mit Clemens eine Rolle gespielt hatte und dass wir anfangs befangen miteinander umgegangen waren, auch wenn wir uns bemüht hatten, die Situation möglichst schnell in den Griff zu bekommen. Sarah fehlte mir, unsere vertrauten Gespräche, unsere Wochenendreisen oder gemeinsamen Kochabende. Auf den ersten Blick konnte man alles entschuldigen, wir waren beide berufstätig und hatten Jobs, bei denen Überstunden auf der Tagesordnung standen, aber bevor ich nach Berlin gezogen war und noch in Hamburg arbeitete, hatten wir uns fast häufiger gesehen als jetzt. Auch Rudi sah ich fast nur noch in geselligen Runden, und so sehr ich es mochte, mit ihm zu lachen und zu feiern, so war er doch eigentlich eine meiner engsten Bezugspersonen. Wenn ich ehrlich war, wusste ich momentan überhaupt nicht, was in ihm vorging, nur dass er nach wie vor so viel wie möglich mit Ben unternahm.
Ben! Gut, der wurde von Liv besser bewacht als der Louvre, und das hieß, dass wir in den letzen zwei Jahren sehr selten allein gewesen waren, abgesehen von unseren gemeinsamen Kulturkinobesuchen.
Wie lange war ich jetzt schon in Berlin zu Hause? Aber bei meinen alten Freunden aus Studienzeiten, die auch in Berlin lebten, hatte ich mich noch immer nicht gemeldet. Der neue Job, Clemens, die Aufregung mit Sarah, die Konkurrenzsituation, die ich so nicht kannte, irgendwie schon seltsam, was in dieser kurzen Zeit alles passiert war.
Nachdenklich, wie ich war, rief ich Rudi an.
»Gretchen, du schiebst ja richtig Depri! Ich sag dir, das ist der Entzug von Clemens. Das sind die Hormone, die fehlenden Endorphine, die du auf alles überträgst. Aber du hast Recht, wir haben schon lange nicht mehr allein gequatscht. Ich komm rüber!«
Manchmal dankte ich meinen Eltern aus tiefstem Herzen, dass sie mich nicht als Einzelkind aufgezogen und Rudi in die Welt gesetzt hatten, der nicht nur mein Schicksal, sondern auch die Peinlichkeit des Namens teilte.
Wenig später stand Rudi mit einer Pizza und einer Flasche
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