Flaschendrehen: Roman (German Edition)
gefühlte Temperatur an, und die ist minus zwanzig. Falls es mir zu kalt wird, drehen wir um, verstanden?«
Ben nickte und ließ die Maschine an.
»Wo fahren wir überhaupt hin?«, schrie ich gegen den Lärm an.
»Überraschung!«, rief Ben, wenn ich es richtig verstanden hatte.
Ich stieg auf und hielt mich an ihm fest, erst sehr zögerlich, was sich nach der ersten Kurve, die er fuhr, jedoch schleunigst änderte, so viel Lebenswillen hatte ich dann doch noch trotz Clemens.
Ben fuhr zügig, aber sicher und ging auf meine Uis und Ohs ein, wenn es mir zu schnell wurde, indem er das Tempo wieder einem ängstlichen, frierenden Mädchen anpasste.
Wir durchquerten die Stadt Richtung Wilmersdorf. Dort hielt er vor einem Restaurant namens Winterschlaf an. Ich wollte ja nicht nörgelig sein, aber Essen und kleine nette Restaurants gab’s auch im Prenzlauer Berg, dafür mussten wir mitten im Winter nicht extra in den Westen fahren. Vielleicht wollte Ben ja auch nur nicht mit mir auf dem Kiez gesehen werden, weil er sich um seinen Ruf sorgte, jetzt, wo ich so oft in unterschiedlicher Männerbegleitung unterwegs war.
Mit blau gefrorenen Fingern nahm ich den Helm ab und folgte Ben in das Restaurant.
Okay, ich hatte mich getäuscht. So ein Restaurant gab es nicht überall, es sei denn bei Schneewittchen und den sieben Zwergen, denn das Restaurant sah original wie ein Märchenschloss aus.
Es war nicht sehr groß, gerade mal zehn Tische waren in dem kleinen Saal untergebracht. Das Besondere war aber, dass die Einrichtung eine Mischung aus allen bekannten Märchen präsentierte, in denen es um Prinzessinnen ging, die auf ihren Traumprinzen warteten. Angefangen bei Aschenputtel bis hin zu Schneewittchen waren thematisch überall Spuren in der Dekoration zu finden. Auch wenn die Beschreibung kitschig klingen mag, so war die Dekoration äußerst geschmackvoll umgesetzt und hatte nichts mit einer Disneylandvariante gemeinsam. Hier waren liebevoll sehr wertvolle und alte Antiquitäten zu einer Märchenlandschaft arrangiert worden. Aufwändig gearbeitete echte Kristallkronleuchter, barocke Stühle mit rotem Samtbrokat überzogen, schwere Vorhänge und an den Wänden zwischen verzierten Spiegeln und schweren Gemälden überall Kerzen in den Wandhaltern.
Das Personal trug Gewänder, die mittelalterlichen Bediensteten gehören könnten, und ein kleines Streichquartett, das im angrenzenden Wintergarten platziert war, sorgte für leise angenehme Musik. Eine freundliche Bedienung in ihrem blauen schlichten Kleid, weißer Schürze und der passenden Haube führte uns an unseren Tisch, der direkt neben einem prasselnden Kamin stand und von dem man einen wunderschönen Blick auf den angrenzenden alten Garten hatte.
Ich fühlte mich sofort verzaubert und in eine andere Welt versetzt. Nie im Leben wäre ich darauf gekommen, dass Ben solch ein romantisches Restaurant kannte.
»Also die Überraschung ist dir gelungen. Das ist wunderschön hier, und vor allem kannte ich es noch gar nicht!«
Ben freute sich, dass es mir so gut gefiel, zumal es wohl nicht einfach gewesen war, einen Tisch zu bekommen, und man normalerweise lange im Voraus reservieren musste.
»Das ist aber noch gar nicht die eigentliche Überraschung, sondern nur der erste Teil.«
Das klang viel versprechend! Langsam machte mir der Abend richtig Spaß, egal ob es eine »Mitleids oder ins Gewissen reden«-Verabredung war.
Ben bestellte für uns beide, mir sollte es recht sein, wenn schon, ließ ich mich heute in allem überraschen.
Die Kellnerin brachte uns einen Riesling, Ben probierte und nickte zufrieden. Wir stießen an.
»Wie geht’s dir?« Er sah mich ohne eine Spur Mitleid an, was ich als sehr angenehm empfand. Wahrheitsgemäß erzählte ich ihm, wie ich mich so durchschlug, und erntete keinen »Ich hab dich vor ihm gewarnt«- oder »Ich hab’s dir ja gesagt«-Kommentar. Ben hörte einfach nur zu, was bestimmt nicht in Rudis Sinne war. Ab und zu stellte er eine Zwischenfrage, aber ansonsten ließ er mich alles sagen und schaute mich wissend an.
Eines interessierte mich brennend.
»Als du mir die beiden Bücher über Casanova und die geheime Körpersprache zu lesen gabst, hattest du da Clemens schon durchschaut, oder was wolltest du mir damit sagen?«
Ben schmunzelte.
»Sagen wir so, ich hatte eine Vermutung, weil es so viele Parallelen gab, wie er sich verhielt und wie du von ihm erzählt hast. Außerdem war mir aufgefallen, dass er Körpersprache absichtlich
Weitere Kostenlose Bücher