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Flashback

Titel: Flashback Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Umgebung allmählich größere Aufmerksamkeit schenkte.
    In den zwei Nächten, die wir zusammen mit Dutzenden von anderen Lastwagenkonvois in der Wüste vor den Mauern und verlockenden Lichtern von Las Vegas verbrachten, bemerkte ich Vals eifriges, fast hungriges Interesse an den Gesprächen der Männer und Frauen um die Lagerfeuer. Der arme Val … Nach dem Willen des Gesetzes und des Bildungsministeriums musste er seit seinen ersten Kindergartentagen in Denver die »Vielfalt« feiern – als eine Art Selbstzweck. Doch vor diesem Konvoi hat er echte Vielfalt noch nie erlebt. Val ist in den Städten Denver und Los Angeles aufgewachsen, wo die Viertel nach ethnischen, sprachlichen und zunehmend auch religiösen Kriterien aufgeteilt sind und in einem endlosen Null-Summen-Spiel von Politik, Verbrechen und sogar Krieg miteinander um ein größeres Stück vom theoretischen Kuchen rangeln.
    Jetzt in diesen fünf Tagen und Nächten hat er Gauge Devereaux kennengelernt, einen Schwarzen aus dem Süden, der offen ausspricht, dass die Rückkehr zu dem Schimpfnamen Nigger ein Versagen seines Volkes und der ganzen Nation darstellt. Devereaux fährt seit achtunddreißig Jahren seinen Sattelschlepper und hat nicht vor, damit aufzuhören, nur weil zwischen den Städten immer größere Gebiete dem Chaos anheimfallen.
    Val hat den Lagerfeuergeschichten von Henry Big Horse Begay zugehört, einem Navajo, der – zusammen mit seiner Frau Laurette – schon seit sechsundzwanzig Jahren am Steuer seines eigenen Lastwagens sitzt und sich weder von Bürokraten oder Soldaten noch von Räubern aufhalten lässt. Henry lacht darüber – und der fehlende Zahn oben lässt die anderen umso weißer erstrahlen –, wie sich das Schicksal nun gegen den weißen Mann gekehrt hat, der sein Volk in Reservate gepfercht hat, aber ich bin
überzeugt, dass dabei keine Häme im Spiel ist. Begay ist einfach ein Betrachter der Geschichte, wie ich es einst war.
    »So ergeht es letztlich allen Gruppen, Völkern und Nationen«, erklärt Henry Big Horse Begay immer noch lachend. »Die Tage der Größe, die heranströmen wie eine gewaltige Flut, werden von den Glücklichen voller Arroganz gefeiert – so wie es bei meinem Volk war –, als hätten sie es verdient, doch das stimmt nicht. Dann zieht sich die Flut zurück, und plötzlich stehen die Nationen und Stämme ratlos auf dem trockenen, müllübersäten Strand.«
    Seltsam, dass ein Mann, der in der Wüste von Arizona aufgewachsen ist, eine Meeresmetapher benutzt.
    Val lernt auch von anderen wie Julio und Perdita, die in den bevölkerungsreichen Städten des Ostens aufgewachsen sind, ihr Glück aber erst auf den offenen Highways gefunden haben – oder dem, was noch davon übrig ist –, und von Latinos wie den Valdez, die in Mexiko geboren sind, aber seit den Achtzigern über die amerikanischen Autobahnen rollen und allen Clans, Kartellen oder Nationen die Gefolgschaft verweigern, die sich auf Kosten von Außenstehenden definieren. Dann gibt es noch Bob und Jan Ellis mit ihren drei Kindern, deren Unterricht im Führerhaus stattfindet. Sie sind Evangelikale aus dem Süden, aber zugleich geistreiche, intelligente, unaufdringliche und gelassene Menschen, die ihren Glauben nicht zur Schau stellen und es ablehnen, andere zu missionieren. Nach Vals Bericht, der einen ganzen Nachmittag mit den drei Kindern verbracht hat, wissen diese mehr über Geografie, Geschichte, Astronomie, Literatur und Naturwissenschaften als Vals Klassenkameraden an der Highschool.
    Am meisten interessiert sich Val wohl für Cooper Jakes, den die anderen Trucker aus irgendwelchen Gründen Old Jakes Brakes nennen. Der alte Kauz ist schon weit über achtzig, wenn
nicht gar schon neunzig, und dabei dürr, zäh und anscheinend unverwüstlich wie Granit. Was ihm an Fett fehlt, macht Cooper Jakes durch einen weiß wallenden Bart wett, und mit seinen pechschwarzen Brauen reiht er sich in die Tradition der großen Propheten ein. Diese Brauen können im Nu nach oben schießen und dem Gegenüber genauso viel Angst einjagen wie Pistolenmündungen. Im Zorn erinnert mich Cooper Jakes an Ahab.
    Doch meistens ist Cooper entspannt und humorvoll, wenngleich sein Spott bei Themen wie Politik und Religion ätzend sein kann. Wenn man dem Alten Glauben schenken darf, fährt er seit seinem siebzehnten Lebensjahr große Lastwagen. Er hatte nie eine Frau, eine Familie oder ein Zuhause und hat es auch nie vermisst. Sein Führerhaus war seine Arche – seine Worte –

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