Flashback
hatte das verstanden, denn beide waren auf ihrem jeweiligen Spezialgebiet bekannter als er. »Dann haben Sie Perdita wohl auf einer akademischen Tagung kennengelernt?«
Julio gluckste. »Wir haben uns beim Free-Trucker-Kongress in Lubbock, Texas, getroffen. Ich hab mitbekommen, dass sich eine Frau im Tattoostand ein Bild von Zerberus auf den Arsch tätowieren
lässt – zwei Hundeköpfe auf die linke Backe, einen auf die rechte. Das musste ich einfach sehen. Das war natürlich Perdita, die mit dreiundzwanzig schon seit vier Jahren selbstständige Truckerin war und an diesem Wochenende auf Spaß oder Streit aus war. Ich hab sie danach zu einem Bier mit Schnaps eingeladen, um den Schmerz zu betäuben. Wir sind sofort auf unsere Namen zu sprechen gekommen und darauf, dass sich ihre Eltern bewusst am Wintermärchen orientiert hatten, und dann war gleich klar, dass wir entweder Feinde werden müssen oder zusammengehören. Nach einer Woche auf Achse, in der ich nähere Bekanntschaft mit ihrem Zerberus schloss, haben wir uns für Letzteres entschieden.«
» O saeclum insapiens et infacetum. « Leonard merkte erst zu spät, dass er laut vor sich hin gemurmelt hatte. O du geistloses, geschmackloses Zeitalter.
»Stimmt genau.« Julio lachte. »Heute noch genauso wahr wie damals. Ich mag Catull. Vor allem den Spruch, dass sie eine Wüste schaffen und es dann Frieden nennen. Das haben wir auch schon zur Genüge erlebt, nicht wahr Lenny?«
Das Zitat »Sie schaffen eine Wüste und nennen es Frieden« stammte von Tacitus, aber Leonard verzichtete darauf, seinen neuen Freund zu korrigieren. »Ja. Also, Julio, ich werde allmählich müde … « Leonard drehte sich auf seinem gepolsterten Sitz und legte die Hände auf die schweren Gurte. Die Sattelschlepper vor ihnen schienen immer tiefer in das Dunkel des breiten Canyons hinabzutauchen.
»Natürlich, Lenny. Sie brauchen Ihren Schlaf. Wir kommen bestimmt noch vor Mittag in Denver an. Aber kann ich Ihnen noch eine Frage stellen, bevor Sie rauf in Ihre Koje steigen? Wer weiß, wann ich wieder mal mit einem echten emeritierten Professor unterwegs bin.«
»Selbstverständlich.« Leonard nahm die Hände von den Gurten. »Eine Frage kann ich gern noch beantworten. Das Gespräch
mit Ihnen hat mir großen Spaß gemacht. Aber Sie müssen mir verzeihen, wenn meine Antwort kurz ausfällt. In den letzten Tagen spüre ich meine Jahre … und den Schlaf, den ich in dieser Woche versäumt habe.«
»Klar.« Julios rechte Hand und linkes Bein führten ganz automatisch die komplexen Bewegungsabläufe beim Herunterschalten durch. Ächzend reagierte der große Sattelschlepper darauf. Vorn im Konvoi blitzten rote Lichter auf, und Leonard roch bereits die überhitzten Bremsen einiger Lastwagen.
»Lenny, sind Sie Jude?«
Leonard fühlte sich wie nach einem Schlag ins Gesicht. Es war nicht unbedingt ein beleidigender oder aggressiver Schlag, eher wie von einem Arzt, der einen Bewusstlosen aufwecken will. In seinem ganzen Leben – vierundsiebzig lange Jahre – hatte ihm niemand diese Frage gestellt. Von seinen vier Frauen hatte er es nur der dritten erzählt, Carol. Kurz streifte Leonard die Ahnung, dass dieser Lastwagenfahrer kein einsamer, ernster Autodidakt war – kein angehender Highwayintellektueller, wie er noch vor wenigen Minuten gedacht hatte –, sondern ein ganz normales Proletenarschloch.
Nicht einmal höflich formuliert hatte Julio seine Frage. Etwa: »Sind Sie jüdischer Herkunft?« Nein, er hatte sie mit antisemitischer Unverblümtheit gestellt: »Sind Sie Jude?« Plötzlich war Leonard gar nicht mehr müde. Noch nicht wütend oder beunruhigt, aber hellwach. »Ja, ich bin Jude. Zumindest stamme ich von Juden ab. Die Religion habe ich nie ausgeübt. Mein Großvater hat seinen Namen geändert, als er nach dem Ersten Weltkrieg nach Amerika kam.«
»Wie hieß er ursprünglich?«
»Fuchs. Einfach der deutsche Begriff für das englische Fox. Angeblich waren viele in der Familie rothaarig, und die Männer von meiner großväterlichen Seite sollen sehr verschlagen gewesen sein. Weil Fuchs zu sehr nach dem F-Wort im Englischen klingt, haben
manche Juden noch eine Endung drangehängt – zum Beispiel Fuchsman. Aber deutsche Namen waren nach dem großen Krieg nicht besonders beliebt, daher hat sich mein Großvater einfach für das entsprechende englische Wort entschieden.« Leonard merkte, dass er zu viel redete, und verstummte.
Julio nickte – aber nicht, als wäre ein Verdacht
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