Flashback
Autodidakten. Seiner Meinung nach hatten sie einen Dummkopf zum Schüler und einen Angeber zum Lehrer.
Jetzt durchquerten sie die Reihen der inaktiven Windräder auf der Kontinentalscheide, und Leonard sah, dass sie viel größer waren, als er vermutet hatte: jedes mindestens einhundertzwanzig Meter hoch. Die verschrammten weißen Säulen zerschnitten den Sternenhimmel in kalte Scheiben.
Leonard versuchte es mit einem Themenwechsel. »Wissen Sie, Julio, es ist schon ein merkwürdiger Zufall mit Ihrem Vornamen und dem von Perdita. Auch mit Ihrem Nachnamen. Julio Romano war … «
»Ein Bildhauer aus Shakespeares Wintermärchen .« Das breite Grinsen des Fahrers schimmerte weiß im Schein der Armaturenanzeigen. »Der einzige zeitgenössische Künstler, den Shakespeare namentlich erwähnt hat. Im fünften Akt taucht die lebensechte Statue von Hermione auf, der toten Frau von Leontes: ›ein Werk, woran schon seit vielen Jahren gearbeitet ward, und das jetzt kürzlich erst vollendet ist, durch Julio Romano, den großen italienischen Meister, der, wenn er selbst Ewigkeit hätte und seinen Werken Odem einhauchen könnte, die Natur um ihre Kunden brächte, so
vollkommen ist er ihr Nachäffer.‹ Wirklich seltsam, nicht wahr, Lenny?«
»Aber genau genommen ein Anachronismus.« In Leonard erwachte unwillkürlich der alte Akademiker. »Der Hinweis bezieht sich auf einen italienischen Künstler namens Giulio Romano aus der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts. Warum Shakespeare Romano als großen Künstler zitiert, bleibt ein Rätsel. Meines Wissens war er nicht einmal Bildhauer.«
Sie überquerten die breite, schneebedeckte Hochebene des Gipfels. Die Scheinwerfer der Lastwagen vor ihnen streiften ein verbeultes, aber noch stehendes Schild: GIPFEL, 3655 m. Julio wechselte den Gang, um sich auf die Abfahrt auf der Ostseite der Kontinentalscheide vorzubereiten. Hinter ihnen wichen die reglosen Windturbinen zurück wie weiße Säulen, die die Kuppel des leuchtenden Nachthimmels stützten.
»Doch, Lenny, dieser Giulio Romano war Bildhauer, da haben sich die frühen Shakespearegelehrten geirrt. In Giorgio Vasaris Künstler der Renaissance , das erst Mitte des neunzehnten Jahrhunderts übersetzt wurde, werden zwei lateinische Grabinschriften Romanos zitiert, die zeigen, dass er nicht nur Maler war, sondern auch Architekt und Bildhauer. Anscheinend ist dieser Ruf bis zu Shakespeare vorgedrungen.«
»Da muss ich mich wohl korrigieren.« Leonard dämmerte allmählich, dass die Abfahrt noch viel schlimmer werden würde als der Anstieg zum Gipfel.
»Ich weiß es auch nur, weil ich den Namen mit ihm teile«, erklärte Julio. »Außerdem war mein Vater Professor für Kunstgeschichte in Princeton.«
»Wirklich?«, entfuhr es Leonard, der seinen überraschten Tonfall sofort bedauerte.
»Ja, wirklich.« Breit grinsend zog Julio das Lenkrad hart nach links. Hinter dem Straßenrand ohne Leitplanke, an dem sie nur um
Zentimeter vorbeiratterten, ging es mehr als einen Kilometer weit in die Tiefe. »Aber ich weiß, was Sie gemeint haben … Wie merkwürdig es ist, dass ich eine Frau namens Perdita geheiratet habe, da Perdita die lange verschollene Tochter von König Leontes ist, mit der er wiedervereint wird, ehe die Statue seiner Frau Hermione zum Leben erwacht. Ich meine, es ist nicht gerade wahrscheinlich, dass jemand mit dem Namen Julio Romano, der im Wintermärchen erwähnt wird, eine Perdita heiratet, die nach einer Figur aus dem gleichen Stück benannt wurde, oder?«
»Ist das so?« Leonard klammerte sich an Lehne und Armaturenbrett fest, als ginge es um sein Leben. »Wurde sie wirklich nach Shakespeares Perdita benannt?«
»O ja.« Julio strahlte den vor ihm liegenden Highway an. »Ihre Eltern waren beide Shakespeareforscher. Ihr Vater R. D. Bradley und ihre Mutter Gail Kern-Preston haben sich bei einer Tagung in Zürich kennengelernt, auf der es ausschließlich um Das Wintermärchen ging.«
»R. D. Bradley und Gail Kern-Preston?« Einen Moment lang überwog Leonards Staunen seine Angst.
»Ja.« Julios Strahlen fand kurz zu Leonard. »Perditas Mom hat nach der Heirat weiter unter ihrem Mädchennamen veröffentlicht. Da sind Wissenschaftler wohl so ähnlich wie Filmstars: Wegen so einer Kleinigkeit wie einer Ehe werfen sie ihren erworbenen Ruf nicht auf den Müll.«
Leonard musste lächeln. Zwei seiner Frauen – die erste, Sonja Ryte-Jónsdóttir, und die vierte, Nubia Weusi – hatten das genauso gesehen. Leonard
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