Flashback
bestätigt worden, sondern wie nach dem Ende einer fast überflüssigen Vorrede.
»War das jetzt die Frage?« Leonard konnte nicht vermeiden, dass sich etwas Scharfes in seine Stimme schlich. Doch momentan war ihm das gleichgültig.
»Nein.« Julio ging gelassen über Leonards Irritation hinweg. »Wissen Sie, Lenny, Sie sind Jude und ein linker Intellektueller von der Universität, und deswegen würde mich Ihre Meinung zu einer Sache dringend interessieren.«
»Und das wäre?« Jede Schärfe war plötzlich aus Leonards Stimme verschwunden. Sie klang nur unglaublich müde.
»Viele Leute glauben, dass Israel zerstört wurde, weil es zugelassen hat, dass die dort im geheimen Wüstenlabor Havat MaShash entwickelte Flashbackdroge außer Landes geschmuggelt wurde.«
Diese Auffassung war auch Leonard seit der Vernichtung Israels bekannt, aber er schwieg, da er keine Frage gehört hatte.
»Ich würde gern wissen, wie Sie darüber denken, Lenny.« Der Fahrer klang fast ein wenig atemlos.
»Worüber genau?«
»Über die Zerstörung Israels. Was Sie als Jude denken, meine ich. Als Jude, aber auch als liberaler Intellektueller.«
»Ich war in meinem ganzen Leben genau viermal in einer Synagoge, Julio.« Leonard sprach leise. »Dreimal, als der Sohn eines Bekannten Bar-Mizwa hatte. Einmal zur Bestattung eines anderen Freundes. Keiner dieser Freunde und Bekannten hatte eine Ahnung, dass ich jüdisch bin – vor allem die nicht, die mir zeigen
mussten, wie man so eine Kippa oder Jarmulke aufsetzt. Für solche Fragen bin ich der falsche Jude.«
»Aber Sie haben doch sicher eine Meinung.« Julio wirkte ebenfalls ziemlich müde. Die Tränensäcke unter den Augen des pummeligen Fahrers waren fast so blauschwarz wie die steilen Hänge zu beiden Seiten des abschüssigen Highways.
»Ja, wie praktisch jeder andere habe auch ich eine Meinung zur Zerstörung Israels. Ich erinnere mich an einen Ausspruch noch aus der Zeit, bevor es passiert ist. Von wem er stammt, weiß ich nicht mehr – mein Gedächtnis ist alt geworden und längst nicht mehr so präzise wie Ihres, Julio. ›Der Tag, an dem Israel zerstört wird, ist der Tag, an dem der wahre Holocaust der Welt beginnt.‹«
»Ist das nicht aus der Bibel?«, fragte Julio. »Klingt irgendwie so.«
»Bestimmt nicht. Vielleicht hat es einer von Israels letzten politischen Führern gesagt. Ich kann mich wirklich nicht mehr erinnern. War das alles, Julio?«
»Aber, Lenny … « Der Fahrer musste sichtlich mit sich ringen. »Eine letzte Frage noch. Was haben Sie über den amerikanischen Präsidenten gedacht – über die amerikanischen Präsidenten eigentlich – und den Kongress, die sich lange vor dem Überfall von Israel abgewandt und die das Land im Stich gelassen haben?«
Professor George Leonard Fox holte tief Luft. Er war ein Mensch, der keiner Fliege ein Haar krümmen konnte. Seit sechs Jahrzehnten befasste er sich mit der Philosophie des Pazifismus, und obwohl er inzwischen eingesehen hatte, dass sie keine Lösung für die Probleme der Welt sein konnte, bewunderte er sie noch immer mehr als die meisten anderen Versuche einer ordnungsstiftenden Ideologie.
Bedächtig setzte er zu einer Antwort an. »Julio, ich hätte mir gewünscht, dass diese Präsidenten, Senatoren und Abgeordneten überall in Washington an Laternenpfählen aufgeknüpft werden. Und beim Gott Abrahams hätte ich mir gewünscht, dass Israel reagiert
wie versprochen und dass es den Iran, Syrien und all die anderen entstehenden Kalifatstaaten in eine einzige Wüste aus nuklearem Glas verwandelt, statt einfach nur passiv zu sterben. Ich bin müde, Julio. Unsere Unterhaltung war wirklich interessant – ich werde sie bestimmt im Gedächtnis behalten. Aber jetzt muss ich mich hinlegen.«
»Natürlich. Gute Nacht, Professor Fox.«
»Gute Nacht.«
Leonard kletterte auf der kurzen Leiter hinauf in seine Koje. Perditas leises Schnarchen drang zwar durch den unteren Vorhang, doch als er seine eigene Falttür schloss, war nichts mehr zu hören.
Er hätte die letzte Nacht im Lastwagen gern zusammen mit Val verbracht, um über morgen zu reden. Leonard hatte furchtbare Angst, dass der Junge auf seinen Vater schießen könnte.
Leonard streifte seine Kleider ab und mühte sich in den Flanellpyjama, den er mitgebracht hatte. Die Welt ging unter, und Polizei, Heimatschutz und FBI machten Jagd auf Val und somit auch auf dessen Großvater, aber er hatte seinen Pyjama und seine Pantoffeln dabei und putzte sich jeden Abend
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