Flashback
und Morgen die Zähne.
Das Leben geht weiter. Eine Erkenntnis, die jeder Jude in seiner DNA mit sich trug.
Leonard war todmüde, aber auch so einsam wie seit vielen Jahren nicht mehr.
Voller Gewissensbisse knipste der alte Mann eine kleine Taschenlampe an, öffnete Vals Tasche und durchwühlte den kargen Inhalt. Daras Telefon war natürlich nicht da, genauso wenig wie die Beretta, aber das wusste Leonard bereits. In einem versteckten Reißverschlussfach an der Seite hingegen fand Leonard fünf Ampullen Flashback. Vier waren leer. Nur eine einzige Ein-Stunden-Ampulle war übrig.
Mit noch größeren Schuldgefühlen – bei Süchtigen und Kriminellen war es bestimmt ein unverzeihliches Vergehen, die Vorräte
eines anderen zu plündern – kroch Leonard unter die Decke und konzentrierte sich auf die Stunde, die er wiedererleben wollte. Dann brach er die Versiegelung und inhalierte tief.
Leonard wusste, dass es nicht schwer war, sich mit Flashback zu konzentrieren, um einen bestimmten Zeitabschnitt noch einmal zu erleben. Erfahrene Konsumenten wie Val beherrschten das im Schlaf und konnten sicher exakt im gewünschten Moment in ihre Vergangenheit eintauchen. Doch der emeritierte Professor George Leonard Fox hatte die Droge schon lange nicht mehr genommen. Er war nervös. In dieser langen, dunklen, einsamen Nacht wollte er nichts anderes, als noch einmal eine Stunde mit seiner geliebten dritten Frau verbringen – seiner einzigen wirklichen Frau. Mit Carol.
Als er sich zu konzentrieren versuchte, war er sich nicht sicher, ob er sich für einen ihrer Geburtstage entscheiden sollte – sie liebte es, ihren Geburtstag mit ihm zu feiern –, für eine Stunde kurz nach ihrer Hochzeit oder vielleicht auch noch davor, als sie immer diese langen Spaziergänge machten. Ausgerechnet in der Sekunde des Inhalierens geriet er in Panik.
Und deshalb musste Leonard in der nächsten Stunde noch einmal eine schmerzhafte Wurzelkanalbehandlung aus der Zeit über sich ergehen lassen, als er Ende fünfzig war. Der Zahnarzt war kurz angebunden, grob und alles andere als mitfühlend. Die Betäubungsspritze wirkte nicht richtig. Leonards lebenslange Angst vor dem Ersticken verstärkte den Schmerz und die Aufregung. Und dass er es jetzt noch einmal erlebte, machte alles noch schlimmer. Aber bei Flashback gab es kein Zurück, das wusste er. Wenn man die Droge inhaliert hatte, musste man den Kelch bis zur bitteren Neige auskosten.
Geschieht mir recht . Die Stunde des Schreckens kroch im Schneckentempo dahin. Ich habe diese Strafe verdient, weil ich dem Jungen sein Flashback gestohlen und versucht habe, mit den Toten zu verkehren,
um der Realität zu entfliehen. Wir sollten unsere Toten in der Erinnerung ehren und nicht durch pharmazeutische Erzeugnisse. Ich habe es mir selbst zuzuschreiben.
Leonard lächelte gequält. In dieser Nacht fühlte er sich wirklich wie ein Jude.
Nachdem sie kurz vor elf in der Nähe der Union Station im Viertel LoDo von Denver abgesetzt worden waren, machten sich Val und Leonard zu Fuß auf den Weg. Sie waren nur acht Tage mit dem Konvoi gefahren, aber Leonard kam es viel länger vor, und er fand es seltsam, nicht bei den Truckern zu bleiben. Irgendwie fühlte er sich verlassen, und Val ging es wohl nicht anders.
Beide waren sie müde und mürrisch, doch bei seinem Enkel wurde der übliche Missmut durch Aufregung ausgeglichen. Bevor ihm einfiel, dass er seinem Großvater eigentlich keine wichtigen Dinge anvertraute, platzte er mit Henry Big Horse Begays Versprechen heraus, Val bei seiner geplanten Rückkehr am 27. Oktober mitzunehmen, falls sich der Junge bis dahin eine gefälschte NICC beschafft hatte. Val zeigte Leonard sogar den Zettel mit Namen, Adresse und Telefonnummer des Ausweisfälschers in Denver. Darunter waren die Angaben zu einem weiteren Mann gekritzelt.
»Das ist der beste NICC-Fälscher, den Begay kennt. Macht angeblich Karten, die niemand von echten unterscheiden kann, aber er sitzt nicht mal hier im Land. Lebt in Austin oder so, auf jeden Fall irgendwo in Texas. Keine Ahnung, warum Begay mir den Namen aufgeschrieben hat. Jedenfalls muss ich jetzt zweihundert alte Dollar auftreiben und diesen Typen am South Broadway hier in Denver treffen.« Schnell nahm Val den gefalteten Zettel wieder an sich.
Leonard musste nicht eigens darauf hinweisen, dass ein Betrag von dreihunderttausend neuen Bucks für sie so unerreichbar war wie die bleiche Mondsichel, die noch immer am Himmel hing.
Für Ende
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