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Flashback

Titel: Flashback Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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September war es ein warmer Tag, fast sommerlich,
und keine Wolke trübte den blauen Himmel. Die Blätter an den wenigen Bäumen entlang der Straßen in diesem alten Viertel sahen so müde und staubig aus wie die beiden Fußgänger, hatten aber noch nichts von ihrer Farbe verloren. Aus seiner Zeit in Boulder erinnerte sich Leonard an solche Herbsttage, an denen das brüchige Laub der Espen im Wind raschelte und sich der Himmel bereits dem unvergleichlichen Blau des Oktobers in Colorado näherte, während die dünne Luft nicht einen Hauch der Feuchtigkeit in sich trug, die so häufig über Los Angeles hing.
    An der Blake Street bogen sie rechts ab und stapften drei kurze Blocks weiter zum Speer Boulevard. Dann stritten sie sich, was sie als Nächstes tun sollten. Val wollte sein altes Haus und die Gegend am Cheesman Park sehen, aber das lag viele Kilometer weiter östlich und hätte sowieso nichts gebracht. Gleich nachdem er Val vor fünf Jahren nach Los Angeles geschickt hatte, hatte Nick das Haus verkauft. Auch die Nachbarn, die Val als Junge gekannt hatte, waren wahrscheinlich weggezogen. Entweder das, mahnte ihn Leonard, oder sie waren von FBI und Heimatschutz vorgewarnt worden, nach Val Ausschau zu halten.
    »Wir sollten zum Cherry-Creek-Wohnkomplex gehen, wo dein Vater wohnt.« Leonard wandte sich nach links in die entsprechende Richtung.
    »Dort wartet das FBI bestimmt auch schon«, antwortete Val.
    »Stimmt. Aber mit ein bisschen Glück kann uns dein Vater vor den Agenten schützen.«
    Der Professor und sein Enkel liefen bis zu der Stelle gleich hinter der Larimer Street, wo der Fußgängerweg den North Speer Boulevard unterquerte. Danach ging es am Ufer des Cherry Creek weiter, der sich zwischen den Fahrbahnen der belebten großen Straße dahinschlängelte.
    Bis zur Cherry Creek Mall waren es über sechs Kilometer, und nach einem Drittel der Strecke war sich Leonard nicht mehr sicher,
ob er es schaffen würde. Matt ließ er sich auf eine Bank am Weg sinken, während Val zappelnd herumstand.
    Als Leonard vor zwei Jahrzehnten in Colorado gewohnt hatte, war die Gegend am Cherry Creek berüchtigt für die Obdachlosen – mindestens ein Bärtiger mit Kartonschild pro Kreuzung – und die weniger sichtbaren Gestalten, die unter den vielen Überführungen über dem abgesenkten Fußgängerweg schliefen. Jetzt bemerkte er, dass Tausende von Obdachlosen – ganze Familien – permanent am Ufer dieses kleinen Flusses lebten. Sie wirkten allerdings nicht bedrohlich, da auf den Wegen zu beiden Seiten des Flusses in beide Richtungen reger Fahrradverkehr herrschte. Geschäftsleute in teuren Anzügen oder Kostümen strampelten vorbei, die Aktentaschen in Körben an den Lenkern.
    Doch jetzt, wo sie angehalten hatten, wurden die Obdachlosen am Ufer und im Schatten der Überführung hinter ihnen auf sie aufmerksam.
    »Wir müssen weiter«, flüsterte Val.
    Leonard nickte, erhob sich aber nicht sofort. Er war furchtbar erschöpft. Und ständig musste er sich an die Zähne fassen, als wäre die qualvoll nacherlebte Wurzelbehandlung der vergangenen Nacht real gewesen. »Die Tasche ist so schwer.« Der Anklang von Wimmern in seiner Stimme war ihm peinlich.
    »Lass sie doch stehen.« Val zupfte seinen Großvater am Ärmel. Vier Männer kamen schlendernd näher.
    »Ich kann sie nicht stehen lassen.« Leonard war schockiert. »Da ist mein Pyjama drin.«
    Val zerrte seinen Großvater auf die Füße. Als sie weitergingen, verloren die vier Obdachlosen das Interesse und verzogen sich wieder zu ihren Schlafplätzen im Schatten. Val schimpfte. »Gestern Nacht hat mir irgend so ein Scheißer aus dem Konvoi meine letzte Flashampulle aus der Tasche geklaut. Kannst du dir das vorstellen, Grandpa?«

    »Schrecklich«, murmelte Leonard.
    Sie setzten ihren Weg nach Süden fort. Die Obdachlosen unter den Überführungen wichen vor Val zurück, und bei diesem Anblick begriff Leonard, dass sein Enkel zum Mann wurde.
    »Wenn wir ein funktionierendes Telefon hätten, könnten wir deinen Vater anrufen.« Leonard schnaufte. »Er könnte uns abholen. «
    »Aber wir haben keins.«
    »Vielleicht gibt es noch öffentliche Telefone. Für ein Ortsgespräch würde das Geld auf meiner NICC noch reichen.«
    »Es gibt keine öffentlichen Telefone, Grandpa. Und vergiss nicht, dass wir unsere Ausweise nicht benutzen können.«
    »Ich wollte nur sagen, wenn es Telefone gäbe und man noch Kleingeld einwerfen könnte, dann könnten wir anrufen und uns den weiten Weg

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