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Flashback

Titel: Flashback Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Kurven kamen.
    Julio zitierte aus dem Gedächtnis. »›Sozialismus ist eine Philosophie des Versagens, das Credo des Unwissens und das Evangelium des Neids. Sein Vorzug ist es, das Elend gleichmäßig zu verteilen. ‹ Da muss ich dem alten Winnie zustimmen. Wenn eine Gesellschaft das Teilen von Leid zum Vorzug erklärt, dann wird es in dieser Kultur viel Mangel und Elend zum Teilen geben. Wir haben diesen Wandel der Auffassung doch beide selbst erlebt, Lenny. «
    »Ja«, bestätigte Leonard. Auf den scharfen Kurven des Loveland Pass verschwanden die Bremslichter der Sattelschlepper vor ihnen immer wieder, als wären sie geradewegs in den Abgrund gestürzt. Im Scheinwerferlicht konnte Leonard erkennen, dass die Straße löchrig und nur grob repariert war und dass die Leitplanken an den Seiten zerbrochen waren oder völlig fehlten. Nur Julios Aufmerksamkeit verhinderte, dass sie durch eine der Lücken hinab in einen flammenden Tod stürzten. »Ja … « Leonard musste sich konzentrieren, um den Gesprächsfaden wiederaufzunehmen. »Doch eine … äh … gemeinschaftlichere Einteilung des Mangels und die Besserung des sozialen Elends heißt nicht unbedingt, dass sich eine Kultur für den Niedergang entschieden hat.«
    »Aber wissen Sie von einer modernen Kultur, die den Sozialismus gewählt hat – eine erzwungene Umverteilung von Reichtum, wie wir sie vor fünfundzwanzig Jahren erlebt haben, Lenny – und dann nicht unweigerlich einen Niedergang erlebt hat? Einen Abstieg als Weltmacht? Eine Abnahme der Produktivität und der Moral bei den Menschen?« Julio schaltete weitere drei Gänge herunter und zerrte das Steuer kurz nacheinander hart nach rechts und wieder nach links, um den Windungen der schmalen Serpentinenstraße zu folgen.
    »Mir fällt keine ein.« Leonard war nicht unbedingt darauf erpicht,
auf diesem Abschnitt des Highways einen Streit vom Zaun zu brechen, auch wenn Julio noch so heiter und entspannt klang.
    Mit der freien Hand stützte sich Leonard am Armaturenbrett ab. Verblüfft bemerkte er die Schneefelder zu beiden Seiten der Straße, die im matten Schein der Sterne und des Mondes auftauchten. Es war doch erst September! Leonard hatte völlig vergessen, wie früh in den Bergen von Colorado Schnee fallen konnte.
    »Sie sind der Professor, Lenny. War es nicht Tocqueville, der gesagt hat: ›Demokratie und Sozialismus haben nichts miteinander gemein als das eine Wort: Gleichheit. Aber man beachte den Unterschied: Während die Demokratie Gleichheit in Freiheit sucht, sucht der Sozialismus Gleichheit in Beschränkung und Knechtung‹? Ich glaube, es war Tocqueville. Ich lese ihn immer noch manchmal auf langen Touren, wenn Perdita fährt und ich nicht schlafen kann.«
    »Ja, das Zitat stammt von Tocqueville«, brachte Leonard hervor. Sie näherten sich dem Gipfel. Der Konvoi nahm jeden Zentimeter der schadhaften und welligen Straße ein. Leonard sah schon förmlich vor sich, wie ein entgegenkommendes Fahrzeug den gesamten Tross von dreiundzwanzig Sattelschleppern dazu brachte, in die Tiefe zu stürzen. Über ihnen zog sich entlang der Kontinentalscheide nach Süden und Norden eine Reihe von riesigen weißen Pfosten hin, die stark an schmalbrüstige Grabsteine erinnerten. Erst nach einer Minute wurde Leonard klar, dass das die größtenteils aufgegebenen Windturbinen aus der kurzen »grünen« Ära waren. Ein gespenstischer Anblick in der Nacht.
    »Lenny, Sie erinnern sich doch bestimmt an das Jahr – vielleicht sogar an den genauen Tag –, ab dem die Mehrheit der amerikanischen Bürger am 15. April keine Steuern mehr bezahlt, aber bei Wahlen weiter Sozialleistungen für sich gefordert hat. Sozusagen der Wendepunkt.«
    »Ich könnte nicht behaupten, dass ich das noch weiß, Julio.«
    »Im Wahljahr 2008 hat nicht mehr viel gefehlt. Im Wahljahr 2012 war es dann so weit. Und 2016 waren wir schon jenseits des Wendepunkts, und danach gab es kein Zurück mehr.« Julio legte den niedrigsten Gang ein, und der Lastwagen mühte sich dröhnend zum Gipfel.
    »Wollen Sie damit auf etwas Bestimmtes hinaus?« Leonard hatte schon einige Leute wie Julio Romano kennengelernt – Autodidakten, die sich für Intellektuelle hielten. Diese Typen hatten immer ein erstaunliches Gedächtnis und die Übersetzungen von Platon, Thukydides, Dante, Machiavelli und Nietzsche gelesen. Was sie nicht begriffen, war, dass die echten Intellektuellen an den Universitäten diese Autoren im Original studiert hatten. Leonard hielt nicht viel von

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