Flashback
Sofort. «
»Nein, wir müssen die Polizei verständigen …, die Sache klären … «
Val packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn mit einer Kraft, die Leonard dem Jungen nie zugetraut hätte. »Da gibt’s nichts zu klären, Mann. Wenn sie mich schnappen, bringen sie mich um. Hast du kapiert? Wir müssen weg!«
»Das Treffen am Rangierbahnhof ist erst um Mitternacht … « Leonard spürte ein Kribbeln in den Gliedern, und ihm war schwindlig. Er ahnte, dass er unter Schock stand.
»Egal.« An der Küchenspüle klatschte sich Val Wasser ins Gesicht und wischte sich mit dem kleinen Handtuch das Blut ab. »Dann verstecken wir uns eben dort, bis es so weit ist. Aber jetzt müssen wir abhauen!«
»Das Licht … « Leonard ließ sich von Val durch die Hintertür schieben.
Wortlos zerrte Val seinen Großvater zu den Fahrrädern und strampelte ihm wie ein Wahnsinniger durch die unbeleuchtete Gasse voraus.
1.07
SIX FLAGS OVER THE JEWS, DENVER
MONTAG, 13. SEPTEMBER
Über dem Eisentor des Denver Country Club hing ein Gekreuzigter, aber das hielt Nick bei seiner morgendlichen Fahrt auf dem Speer Boulevard nach Six Flags Over the Jews nicht auf. Die Telefonnachrichten brachten nichts über die Identität des Toten und den Grund für die Kreuzigung. Der Verkehr bewegte sich zügig, und Nick musste den Gelding antreiben, um Schritt zu halten. So erhaschte er links nur einen flüchtigen Blick auf mehrere Rettungswagen am Eingang und Polizisten auf Leitern. Das ehemals teure und exklusive Etablissement war schon seit Jahren kein Country Club mehr. Der Golfparcours und die Tennisplätze waren mit mehreren hundert fensterlosen blauen Zelten von der Sorte bedeckt, wie die UN sie nach Tsunamis oder Epidemien in Länder der Dritten Welt brachte. Niemand aus Nicks Bekanntenkreis wusste, warum hier Zelte aufgestellt waren und welchem Unternehmen oder Land der Country Club inzwischen gehörte, und es interessierte auch niemanden.
Nick hatte alles Flashback verbraucht, das ihm Sato gegeben hatte, und anschließend von Sonntagnachmittag bis Montagmorgen durchgeschlafen. So ein Zusammenbruch kam bei Flashbackabhängigen nicht selten vor. Die Wirkung der Droge ähnelte dem Schlaf bis hin zu den schnellen Augenbewegungen, aber es war kein Schlaf. Zumindest nicht die Art von Schlaf, die das menschliche Gehirn benötigte. Daher klappten Flashbacksüchtige ungefähr
alle vierzehn Tage zusammen und schliefen bis zu vierundzwanzig Stunden am Stück.
Abgesehen von Kopfschmerzen, die ihm zusetzten wie ein besonders schlimmer Kater, musste Nick zugeben, dass er sich wieder halbwegs frisch fühlte.
Das Dumme war, dass ihm seine Umgebung nicht richtig real vorkam. Nicht der Speer Boulevard mit den überhängenden Bäumen, nicht der dröhnende Verkehr auf den zwei Schleichspuren und die skateboardleisen Wasserstoffautos auf der VIP-Spur, nicht die vielen hundert behelfsmäßigen Bretterbuden entlang des zwischen den Fahrradwegen fünf Meter unter der Straße verlaufenden Cherry Creek. So ging es ihm schon seit mindestens fünf Jahren, aber seit einem Monat war es noch schlimmer geworden. Real waren nur die Flashbackstunden mit Dara. Das unsinnige Zwischenspiel mit Sato und das Improvisieren hohler Sprüche in diesem schlecht geschriebenen, beleuchteten und gespielten Theaterstück war nicht die Wirklichkeit.
Doch was Nick verwirrte, war die uneinheitliche Verwendung von Flashback. Er hatte es benutzt, um seine Erinnerung an die Vernehmung von Danny Oz vor knapp sechs Jahren aufzufrischen. Und wie jeden Tag seit fünfeinhalb Jahren hatte er es genommen, um mit seiner toten Frau zusammen zu sein.
Aber er hatte auch viele Stunden mit der Droge darauf verwendet, herauszufinden, wo sich Dara in der Nacht von Keigos Ermordung aufgehalten hatte.
Er war in dieser Nacht bei einem Überwachungseinsatz auf dem Santa Fe Drive gewesen, fast schon am Rand des Reconquistaniemandslands, und saß auf der Rückbank eines Zivilwagens, während die beiden Beamten vorn das Haus eines lokalen Warlords beobachteten, der Waffen und Drogen in die Stadt schmuggelte. Als Detective des Dezernats Gewaltverbrechen hatte Nick Bottom dort eigentlich nichts zu suchen, aber im ersten Jahr nach seiner
Beförderung war er der Idee verfallen, dass er doch seine Ermittlerarbeit machen und zugleich mit dem Straßengeschehen in Kontakt bleiben konnte.
Aber er konnte es nicht. Die Idee war dumm.
Die beiden Beamten auf den vorderen Sitzen – Cummings, der nach
Weitere Kostenlose Bücher