Flatline
ärgerte er sich darüber, so schlecht vorbereitet zu sein. Mittlerweile hatte es aufgehört zu schneien und ein stärker werdender Wind blies durch die Häuserschluchten des Universitätsareals. Fast eine Viertelstunde hatte er sich durchgefragt, bis er schließlich in dem Gebäude angekommen war, in dem sein Freund und Kollege untergebracht war. Als er an der Anmeldung nach der Zimmernummer fragte, traf ihn die Realität wie ein Keulenschlag.
Jack wurde heute Morgen in die Intensivstation der Tropenmedizinischen Ambulanz verlegt. Er dürfe auf gar keinen Fall Besuch empfangen. Über seinen Zustand konnte die freundliche ältere Dame keine Angaben machen.
Joshua rannte den beschriebenen Weg entlang. Die Klinik konnte er schon von Weitem sehen, es war das größte Gebäude auf dem riesigen Universitätsgelände. Er folgte hastig den Hinweisschildern und gelangte auf einen langen, tristen Flur. Am hinteren Ende befanden sich zwei Glastüren mit Verbotsschildern. Wenige Meter davor standen einige Stühle. Er erkannte Corinna, Jacks Frau. Ungefragt setzte er sich neben sie. Mit tränennassen Augen sah sie ihn an. Joshua legte stumm einen Arm um ihre Schultern. Er wollte gerade zu einer Frage ansetzen, als eine der Glastüren aufging und ein drahtiger älterer Mann in weißem Kittel den Flur betrat und vor ihnen stehen blieb. Corinna schoss sofort hoch und starrte ihn fordernd an. Joshua blickte auf ein Namensschild an seiner Brust und stellte fest, dass es sich um einen gewissen Doktor Rosenbaum handelte. Dieser ließ die Mundwinkel fallen und machte einen ratlosen Eindruck.
»Wir haben bei Ihrem Mann den Dengue-Virus gefunden.«
Seine Stimme klang leise, Joshua glaubte, Besorgnis herausgehört zu haben.
»Was ist das?«
»Der Dengue-Erreger wird durch Moskitos übertragen. Er gehört zur Gruppe der Flaviviren, zu der auch die Erreger von Hepatitis-C oder Zeckenenzephalitis zählen. Normalerweise dauert die Erkrankung zwei bis vier Wochen.«
Doktor Rosenbaum schluckte und senkte für eine Sekunde seinen Blick. Mit den Fußspitzen tippte er nervös auf den Flurboden. Corinna wurde immer unruhiger, ihre Lippen zitterten. Die schlanke, blonde Frau war nur noch ein Nervenbündel. Joshua hatte am Vorabend mit ihr telefoniert. Jack hatte seit zwei Tagen fast 41 Grad Fieber, die Ärzte konnten es nicht senken.
»Das gilt aber leider nur für die erste Infektion«, fuhr Doktor Rosenbaum eine Spur zu eilig fort, »bei Ihrem Mann ist es mindestens die zweite. Er leidet unter einem Dengue-Schock-Syndrom.«
»Was bedeutet das?«, Corinna schrie ihn an. Ihre Stimme wurde von Angst und Verzweiflung getragen.
»Die Blutgerinnung ist gestört, der Kreislauf ebenfalls. Wir versuchen alles, ihn stabil zu halten.«
»Wird er wieder gesund?«
»Bitte, Frau Holsten, wir geben unser Bestes.«
Der Satz schwebte wie eine Schlinge im Raum und schien sich langsam und erbarmungslos um Corinnas Hals zu legen. Der letzte Rest Farbe entwich ihrem schmalen Gesicht. Ihre Augen flackerten, die Lippen vibrierten. Rosenbaum sah auf die Uhr und zog sie an der Schulter herum. Immer wieder blickte er den langen Flur hinab.
»Sie können ihm jetzt nicht helfen. Entschuldigung, ich muss weiter.«
Joshua, der während des Gesprächs wortlos neben ihnen stand, nahm ihre linke Hand.
»Soll ich dich nach Hause bringen?«
»Nein … es geht schon. Es ist nur …«
Vereinzelte Tränen rollten über ihr Gesicht, als Joshua sie zum Parkplatz begleitete.
10
Es war kurz nach achtzehn Uhr. Joshua fuhr direkt nach Hause. Als er die Wohnungstür aufschloss, schlug ihm Kindergebrüll entgegen. Er hatte nicht mehr daran gedacht, dass Kalle mit Petra und den Kindern kommen wollte. Die Kleinen gaben keine Ruhe, sie waren ganz verrückt darauf, Jagger zu sehen. Der Boxerrüde mit den zerfurchten Gesichtszügen entwickelte sich immer mehr zum Liebling, vor allem der Nachbarskinder. Ihr Sohn David hatte die clevere Idee, einen »rent-a-dog-service« ins Leben zu rufen. Für 50 Cent durften seine Freunde eine Viertelstunde mit Jagger spazieren gehen. Natürlich nur in seiner Begleitung, was Janine und Joshua zur Bedingung machten. Joshua hatte den Hund von einem Kollegen bekommen. Nach der Scheidung fühlte sich niemand für das Tier zuständig. Er freundete sich schnell mit dem Gedanken an, bei seinen täglichen Joggingrunden nicht mehr alleine zu sein. Bei den Kindern rannte er mit dieser Idee offene Türen ein, nur Janine war nicht leicht
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