Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)
Mund, stieß einen leisen, aber vernehmlichen Würgelaut aus, schob ihren Stuhl zurück und rannte aus dem Zimmer.
Vater blickte kurz vom British Philatelist auf. Ich hob zur Tarnung scheinbar erstaunt eine Augenbraue, aber er ließ sich zum Glück nicht lange von seiner Lieblingsbeschäftigung ablenken. Nur kurz lauschte er Feelys verhallenden Schritten, als hätte in der Ferne ein Hund gebellt, dann widmete er sich wieder seiner Zeitschrift.
»Du, Vater, ich habe gestern einen Freund von dir kennengelernt«, sagte ich. »Er heißt Adam Sowerby.«
Vater tauchte abermals widerwillig aus unergründlichen Tiefen auf.
»Sowerby? Wo hast du den denn getroffen?«
»Hier auf Buckshaw. Vor dem Haus. Er fährt einen ungewöhnlichen alten Wagen, bis oben hin voll mit Pflanzen.«
»Soso«, machte Vater und betrachtete wieder die Stiche von Königin Victorias Profil.
»Er hat mich ins Dorf mitgenommen. Er will nach alten Blumensamen Ausschau halten, wenn das Grab des heiligen Tankred geöffnet wird.«
Vater blickte zum dritten Mal auf. Es war, als führte man eine Unterhaltung mit einem Tiefseetaucher, der nach jedem Satz wieder in den Fluten verschwand.
»›Sowerby‹ hast du gesagt?«
»Ja. Adam Sowerby. Dogger meinte, er ist ein alter Freund von dir.«
Vater schlug die Zeitschrift zu, nahm die Lesebrille ab und schob sie in die Westentasche. »Ein alter Freund? Ja, so könnte man wohl sagen.«
»Ach übrigens, wo wir gerade vom Grab des heiligen Tankred sprechen«, machte ich mir Vaters ungeteilte Aufmerksamkeit rasch zunutze, »in der Gruft wurde gestern die Leiche von Mr. Collicutt gefunden.«
Daffys Kopf schnellte von ihrem Buch hoch. Sie hatte natürlich die ganze Zeit zugehört.
»Colly? Colly ist tot? Weiß Feely das schon?«
Ich nickte, sagte aber nicht, dass sie es schon seit gestern Morgen wusste. »Allem Anschein nach ist er ermordet worden.«
»Allem Anschein nach?«, hakte Vater sofort nach. Volle Punktzahl fürs Blitzmerken! »Allem Anschein nach? Soll das heißen, du warst dort? Du hast ihn gesehen … ich meine, seine Leiche?«
»Ich habe ihn persönlich entdeckt«, erwiderte ich bescheiden.
Daffys Kinnlade fiel herunter wie eine Galgenklappe.
»Also wirklich, Flavia!«, sagte Vater. »Das geht jetzt aber zu weit.«
Er fischte seine Brille wieder aus der Tasche, setzte sie auf, nahm sie wieder ab und setzte sie wieder auf. Bis dahin hatte ich den Eindruck gehabt, dass er stolz auf mich gewesen war, wenn ich wieder mal eine Leiche entdeckt hatte, aber offenbar gab es auch da Grenzen.
»Collicutt? Der Bursche, der die Orgel spielt? Wieso ist der denn auf einmal tot?«
Das war zwar eine unsinnige Frage, andererseits aber auch eine ausgezeichnete.
Mrs. Mullet, die gerade aus der Küche hereinkam, sagte verächtlich: »Die Leute sagen, der Bursche hätt’s verdient. Ständig dieses gottlose Treiben auf dem Friedhof! Jetzt haben ihn die Teufel in ein Schwein verwandelt, so wie in der Bibel.«
Welches gottlose Treiben auf dem Friedhof? Was meinte sie bloß damit? Oben im Turm hatte mir Mr. Haskins von umhergeisternden Lichtern erzählt, aber das war vor vielen Jahren gewesen, während des Krieges. Ob diese merkwürdigen Ri-tuale, oder was es auch war, immer noch stattfanden?
In einem Punkt jedoch war ich mir so gut wie sicher, nämlich dass die Gasmaske, die man dem armen Mr. Collicutt übers Gesicht gezogen hatte, aus der Truhe im Turm stammte. Bestimmt hatte dort nicht nur eine Maske bereitgelegen.
Ich hätte sogar meinen Bunsenbrenner darauf verwettet, dass es sich bei beiden Masken um das gleiche Modell handelte.
Was nicht heißt, dass ich mich mit Gasmasken besonders gut ausgekannt hätte.
Andererseits hatten wir ein paar von den Dingern im Haus. Eine gehörte Daffy, eine bunt bemalte Micky-Maus-Maske aus rotem Gummi mit einer blauen Blechschnauze, die sie im zarten Alter von drei Jahren bekommen hatte und die immer noch griffbereit an ihrem Spiegel hing.
»Man weiß ja nie«, hatte sie einmal gesagt und mich dabei ganz merkwürdig angeschaut.
Dann gab es noch die wesentlich ältere Maske in meinem Labor, die vor eventuellen Chemieunfällen schützen sollte. Winston Churchill, damals noch Finanzminister, hatte sie Onkel Tar kurz vor seinem Tod im Jahre 1928 persönlich überreicht. Den Verlauf dieses Zusammentreffens schilderte Onkel Tar ausführlich in einem seiner Tagebücher, von denen ich stets einen Band auf dem Nachttisch liegen hatte und die mir schon zu vielen Stunden
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