Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)
hielt dem Sergeant im Vorbeigehen den Strauß unter die Nase.
Welcher Mann hätte es gewagt, sich mir in den Weg zu stellen?
Ich war schon fast unter dem Vordach, als der Sergeant den Mund aufmachte.
»Augenblick mal.«
Ich blieb stehen, drehte mich um und hob fragend die Augenbraue. »Was ist denn?«
Aber er sah auf einmal gar nicht mehr amtlich aus, sondern betrachtete wie beiläufig seine Fingernägel, als ginge es um nichts Wichtiges, eigentlich um gar nichts, höchstens um einen flüchtigen Einfall.
»Sag mal, stimmt es, was man sich über deine Schwester erzählt? Dass sie demnächst heiratet?«
»Wer hat Ihnen denn so was erzählt?«, fragte ich aufs Geratewohl zurück.
»Als Polizist hört man so einiges«, antwortete er kummervoll. Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, ließ ihn sein jungenhaftes Lächeln im Stich.
»Das ist bestimmt nur ein dummes Gerücht«, erwiderte ich rasch. Ich wollte nicht diejenige sein, die dem netten Sergeant das Herz brach.
Einen Augenblick standen wir einfach nur da und schauten einander an – von gleich zu gleich, von Mensch zu Mensch.
Dann wandte ich mich ab und betrat die Kirche.
Sonst hätte ich ihn womöglich noch in den Arm genommen.
Drinnen herrschte kühles Zwielicht und jene leicht beunruhigende Atmosphäre, die leere Kirchen so an sich haben – als würden die Seelen der Verstorbenen in der Krypta leise singen (oder vielleicht auch fluchen), aber immer ein wenig zu hoch oder zu tief, als dass wir Lebenden sie hören können.
Diesmal aber vernahm ich keinen Chor von Seelen. Eher einen Chor von Hornissen: ein An- und Abschwellen … welchen Ausdruck hatte Daffy neulich benutzt? Lamentieren? Ja, ein leises Lamentieren, wie das Heulen ferner Luftschutzsirenen, das ab und zu vom Wind fortgerissen wird.
Ich blieb reglos neben einer Säule stehen.
Das Geräusch dauerte an, wurde vom Deckengewölbe zurückgeworfen.
Ich sah niemanden. Ich machte einen Schritt, noch einen – dann traute ich mich weiterzugehen.
Kamen die Laute aus dem Orgelgehäuse? Hatte sich eine Pfeife verklemmt? Oder heulte der Wind durch irgendeine Öffnung?
Mir fiel wieder ein, dass ich mich immer noch nicht nach dem zerbrochenen Fenster umgeschaut hatte, durch das die Fledermaus hereingeflogen sein mochte.
Auf Zehenspitzen trippelte ich die teppichbespannten Stufen zum Altar empor. Hier wurde das Heulen lauter.
Wie eigenartig! Es kam mir vor … nein, es war tatsächlich eine Melodie! Ich erkannte sie sogar: »Im Staub, o Herr, wir vor dir knien.«
Feely hatte das Lied angestimmt, als sie vor ein paar Tagen Klavier geübt hatte.
»Im Staub, o Herr, wir vor dir knien.«
Ich hatte in unserer Eingangshalle gestanden und den ziemlich schaurigen Worten gelauscht:
» Bei dem Seufzen des Verräters …«
Feely hatte viel Gefühl in die Worte gelegt.
Solche Lieder werden heutzutage gar nicht mehr geschrieben, hatte ich gedacht.
Jetzt ging mir der unheimliche Text wieder durch den Kopf, während ich lautlos den Mittelgang entlanghuschte, mit offenen Augen und gespitzten Ohren auf der Suche nach dem Ursprung der gruseligen Klänge.
Eine Diele knarrte.
Es überrieselte mich kalt, und ich wandte langsam den Kopf.
Keiner da. Aber die Klänge verstummten jäh.
»Du da, Kleine!«
Ich fuhr herum.
Sie saß am Ende einer Kirchenbank, deren kunstvoll geschnitztes Seitenteil sie meinem Blick verborgen hatte, bis ich praktisch neben ihr stand. Riesige Glotzaugen starrten mich durch gewölbte Gläser an, in denen sich zu allem Überfluss die grellen Farben des Kirchenfensters mit dem abgeschlagenen Haupt Johannes des Täufers spiegelten.
Es war Miss Tanty.
»Du da, Kleine!«
Bis auf ihren gestärkten weißen Spitzendeckchen-Kragen war sie von Kopf bis Fuß in schwarzen Stoff gehüllt, als hätte sie ihr Kleid aus dem Tuch geschneidert, unter das der Fotograf den Kopf steckt, bevor er auf den Gummiball drückt.
»Was hast du hier zu suchen, Kleine?«
»Guten Morgen, Miss Tanty. Ich habe Sie gar nicht gesehen.«
Ihre Erwiderung bestand in einem abfälligen Schnauben.
»Erzähl mir nichts! Du hast rumgeschnüffelt.«
Unter normalen Umständen erlebte jemand, der so mit mir redete, den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr. Zumindest in meiner Fantasie teilte ich Gift mit sehr lockerer Hand aus.
In diesem Fall jedoch beschloss ich, eine Ausnahme zu machen. Ich brauchte Informationen.
»Ich habe nicht rumgeschnüffelt, Miss Tanty. Ich bringe Blumen für den Altar.«
Ich hielt ihr den
Weitere Kostenlose Bücher