Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)
Es funktionierte einfach nicht.
Sollte ich bei ihr bleiben? Bei ihr wachen, bis die Sonne aufging?
Oder sollte ich lieber Dr. Darby holen? Oder zum Pfarrhaus laufen und den Vikar wecken?
Während ich noch fieberhaft überlegte, vernahm ich hinter mir leise Schritte. Ich sprang auf und drehte mich blitzschnell um.
Vor mir stand mit kreidebleichem Gesicht der Vikar.
»Meine Güte«, stammelte er, »meine Güte! Ich hatte schon befürchtet, dass es irgendwann so weit kommt.«
Nicht: Was hast du mitten in der Nacht in der Kirche zu suchen? Nicht: Wieso hockst du über meiner geliebten Frau? Nicht: Was hast du mit ihr angestellt?
Sondern schlicht: »Meine Güte. Ich hatte schon befürchtet, dass es irgendwann so weit kommt.«
So weit? Was meinte er damit?
Und wenn es schon so weit gekommen war, was hatte Cynthia eigentlich mitten in der Nacht in der Kirche zu suchen? War sie es womöglich gewesen, die …
Diesen verstörenden Gedanken mochte ich nicht zu Ende denken.
»Ich glaube, Ihre Frau ist ohnmächtig geworden«, sagte ich ziemlich dämlich und ertappte mich dabei, dass ich unwillkürlich die Hände rang.
»Es ist nicht das erste Mal«, sagte der Vikar wie im Selbstgespräch und schüttelte den Kopf. »Nein, leider ist es nicht das erste Mal.«
Weil ich nicht wusste, was ich machen sollte, stand ich einfach nur da wie ein Schaf.
»Flavia, meine Liebe«, sagte der Vikar schließlich zu mir und kniete sich ebenfalls neben die reglose Cynthia, »du musst mir helfen, sie nach Hause zu bringen.«
Die Worte klangen merkwürdig angespannt. Warum ließ er sie nicht einfach liegen, bis sie wieder zu sich kam? Warum wollte er sie in diesem Zustand ins Pfarrhaus schleppen?
Schließlich hatte sie sich nicht irgendwo heillos betrunken und musste deshalb weggebracht werden, ehe jemand von der Gemeinde sie so sah.
Oder doch?
Nein, das war unmöglich. Mir war nicht der leiseste Hauch von Alkohol aufgefallen, und ich bildete mir wirklich etwas darauf ein, die Ketone überall herausschnüffeln zu können.
»Selbstverständlich«, erwiderte ich.
Der Vikar hob seine Frau so mühelos hoch, als wäre sie eine Puppe, und ging mit langen Schritten in Richtung Kirchentür.
Ich folgte ihm durch das nasskalte Friedhofsgras bis zum Pfarrhaus, wobei ich mich immer wieder umsah, ob nicht doch jemand hinter einem Grabstein lauerte, aber da war niemand. Die Eindringlinge hatten sich verdrückt.
Dann lief ich vor dem Vikar die Treppe hoch und hielt ihm die Haustür auf.
»Ins Arbeitszimmer«, sagte der Vikar, als ich die schwache Glühbirne in der kleinen Diele anknipste.
Im Arbeitszimmer sah es wie immer aus, als hätte dort ein Erdrutsch an Büchern stattgefunden. Ich räumte mehrere Stapel zundertrockener Bände von dem Rosshaarsofa auf den Boden. Es war dasselbe Sofa, auf dem die verrückte Meg während der Rupert-Porson-Geschichte gelegen hatte.
Der Vikar drapierte meinen Mantel so sorgfältig um seine Frau, als brächte er ein kleines Kind ins Bett.
Sie regte sich kaum merklich und stöhnte leise. Er streichelte ihr sanft das Gesicht.
Ihre wasserblauen Augen öffneten sich, und ihr Blick husch-te unruhig hin und her.
»Es ist alles gut, Liebling«, sagte der Vikar. »Alles ist gut.«
Sie richtete den Blick auf ihn, und dann geschah das Wunder.
Sie lächelte!
Cynthia Richardson lächelte!
Für mich hatte die Frau immer ein wenig wie eine Ratte ausgesehen, aber ich war zugegebenermaßen etwas voreingenommen. Die gebleckten, vorstehenden Zähne und der mürrische Blick unter der dauergerunzelten Stirn verliehen ihr das Aussehen eines schlecht gelaunten Nagetiers.
Und doch lächelte Cynthia Richardson jetzt!
Um nicht ungerecht zu sein, muss ich zugeben, dass ihr Lächeln durchaus zu der Sorte gehörte, die man im Allgemeinen als strahlend bezeichnet.
Keine Madonna hatte je so zärtlich ihr Kind betrachtet, keine Braut hatte ihren Bräutigam je so liebevoll angeschaut, wie Cynthia Richardson ihren Mann anschaute.
Um ein Haar wären mir die Tränen gekommen.
»Soll ich Dr. Darby holen?«, fragte ich. »Ich bin in nullkommanix dort und wieder zurück.«
In Wahrheit wollte ich die beiden in diesem Augenblick lieber allein lassen. Ich war ein Eindringling.
»Nein, nein«, antwortete der Vikar. »Cynthia braucht nur etwas Ruhe. Siehst du, sie schläft schon.«
Das stimmte. Mit dem letzten Anflug jenes wunderschönen Lächelns um die Mundwinkel war Cynthia Richardson eingenickt.
Ein leises Schnarchen war die
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