Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)
Collicutt in der Hand gehalten.
Demnach hatte der Organist genau hier, im Herzen der großen Orgel, die er mit so viel Inbrunst gespielt hatte, den Tod gefunden.
Da war ich mir ganz sicher.
Zwar hatte ich kein Taschenmesser dabei, um eine Probe von dem roten Fleck abzuschaben, aber das war nicht weiter schlimm. Um eine Verunreinigung durch meine Finger auszuschließen, würde ich das untere Ende der Taschenlampe aufschrauben und den Metalldeckel als Spatel benutzen.
Erst als der Lichtstrahl über meine Knie glitt, entdeckte ich, in welchem Zustand meine Kleider sich befanden. Mein Sonntagsmantel sah aus, als hätte ich mich im Schlamm gewälzt. Er war mit Grabschmadder verdreckt, mit Lehm aus dem Tunnel beschmiert und mit einer Staubschicht paniert. Auch dieses Kleidungsstück würde ich wohl den Flammen übergeben müssen.
Mein Gesicht sah vermutlich nicht besser aus. Ich strich mir mit dem Handrücken über die Stirn. Als ich die Hand ins Licht hielt, war sie widerlich schwarz verschmiert.
Bevor ich nach Hause gehe, muss ich mich gründlich waschen, dachte ich. Hoffentlich gab es irgendwo in der Kirche Wasser. Wenn ja, war es angesichts der Stunden, die mir bis zum Tagesanbruch noch blieben, durchaus machbar, mich bis zum Frühstück einigermaßen vorzeigbar herzurichten.
Das Taufbecken!, schoss es mir durch den Kopf.
Ich verließ das Orgelgehäuse und begab mich in die Altarnische. Dabei achtete ich darauf, dass ich nicht mit irgendwelchen kirchlichen Ausstattungsgegenständen in Berührung kam.
Zur Not konnte ich sogar auf den Abendmahlswein zurückgreifen und ihn als Fleckenlöser benutzen.
Beim Gedanken daran, was der Vikar wohl dazu gesagt hätte, entfuhr mir ein ersticktes Prusten. Sein Gesichtsausdruck …
Ein gellender Schrei ließ das Bild zerbersten.
Ich fuhr herum und sah mich einer von Kopf bis Fuß schwarz gekleideten Gestalt gegenüber.
Das Blut gefror mir in den Adern, und es dauerte ein paar Sekunden, bis mein alarmierter Verstand das Phantom identifizierte.
Es war Cynthia Richardson.
Sie hatte mich dabei beobachtet, wie ich allem Anschein nach aus der geschlossenen Wand herausgetreten war; dazu kam, dass meine Kleidung womöglich noch mehr nach Grab aussah als bei unserer Begegnung auf dem Friedhof.
Ihr zum Schrei aufgerissener Mund stand offen, die Augen wollten ihr schier aus dem Kopf springen.
»Hannah!«, keuchte sie.
Dann verdrehte sie die Augen und kippte um, als hätte sie ein Schuss ins Herz getroffen.
Mein Rückgrat war plötzlich ein Rinnsal aus Eiswasser.
»Hannah!«, hatte auch der Vikar in jener Nacht im Schlaf gerufen, in der er und Cynthia wegen eines Schneesturms auf Buckshaw festgesessen hatten. »Nein, Hannah, bitte nicht!« Ich konnte sein gequältes Flüstern noch deutlich hören. Schon damals hatte ich mich gefragt, wer Hannah wohl gewesen sein mochte, und als ich jetzt auf die bewusstlose Cynthia Richardson hinabblickte, beschäftigte mich die gleiche Frage.
Bewusstlos? Oder war sie etwa tot?
War sie vor Schreck tot umgefallen? Sie wäre nicht die Erste gewesen.
Ich kniete mich hin und legte den Finger an ihre Halsschlagader, so wie ich es Dogger bei mehr als einer Gelegenheit hatte tun sehen. Ich spürte einen unmissverständlich kräftigen, gleichmäßigen Puls.
Ich atmete auf. Wenigstens hatte ich sie nicht umgebracht!
Aber ich musste dafür sorgen, dass sie bequem lag und genug Luft bekam. Vom Erste-Hilfe-Kurs bei den Pfadfinderinnen wusste ich noch, dass Schockopfer auf keinen Fall auskühlen durften.
Ich schälte mich aus meinem dicken Mantel und legte ihn über Cynthia, wobei mir auffiel, wie mitleiderregend klein sie war – kaum größer als ich.
Während ich mit dem Ohr an ihrem Mund lauschte, wie sie ein- und ausatmete, sah ich wieder vor mir, wie sie mich eines Tages ertappt hatte, als ich auf den Altar gestiegen war und für eine chemische Analyse ein Pröbchen Smalte von einem Buntglasfenster abschaben wollte. Damals hatte sie mich an Ort und Stelle übers Knie gelegt und mir eine Tracht Prügel verpasst, wozu sie schändlicherweise ein Gesangbuch zweckentfremdete.
Im Nachhinein war der Vorfall fast komisch, aber nur fast. Ich hatte sie ihr nie ganz verziehen, diese erste richtige Bestrafung, die ich in meinem ganzen Leben erfahren hatte – abgesehen natürlich von den Strafen, mit denen mich meine Schwes-tern peinigten.
Als ich jetzt neben ihr kniete, hätte ich gerne so etwas wie den Genuss der Rache gespürt.
Aber es ging nicht.
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