Flavia de Luce - Mord im Gurkenbeet - The Sweetness at the Bottom of the Pie
lesen, die jemandem gewährt wird, wenn die Falle bereits zugeschnappt ist, oder aber von dem Pferd, dem kurz vor der Ziellinie das Herz stehen bleibt.«
Er kicherte ironisch und zog ein Taschentuch hervor, um sich die Augen zu wischen.
»›Zu spät! Zu spät!, so die Maid‹, und so weiter. ›Und noch fünfzehn Minuten bis Buffalo.‹«
»Ach, das Schicksal treibt gern seine Späße«, fuhr er mit gedämpfter Stimme fort. »Wer hat das gesagt? War das nicht Cyrano de Bergerac?«
Ganz kurz dachte ich, welchen Spaß es Daffy machen würde, sich mit dem alten Herrn zu unterhalten, aber nur ganz kurz. Dann zuckte ich die Achseln.
Mit einem heiteren Lächeln nahm Dr. Kissing die Zigarette aus dem Mund und hielt die glühende Spitze an die Ecke des Rächers von Ulster.
Mir war zumute, als hätte mir jemand einen Feuerball ins Gesicht geschleudert und Stacheldraht um die Brust gespannt. Ich fuhr erst zusammen, dann erstarrte ich vor Schreck, konnte nur hilflos zusehen, wie die Briefmarke zu qualmen anfing und ein Flämmchen sich gemächlich, aber unerbittlich durch das jugendliche Antlitz Königin Viktorias fraß.
Als das Flämmchen an seinen Fingern ankam, ließ Dr. Kissing die geschwärzte Marke auf den Boden fallen. Unter dem Saum seines Morgenmantels tauchte ein blank gewienerter schwarzer Schuh auf, stellte sich sachte auf die Asche und zermalmte sie mit ein paar kurzen Drehbewegungen.
Es dauerte nur drei dröhnende Herzschläge, dann erinnerte nur noch ein schwarzer Fleck auf dem Linoleum in Haus Krähenwinkel an den Rächer von Ulster.
»Die Marke in deiner Tasche hat ihren Wert soeben verdoppelt«, verkündete Dr. Kissing. »Hüte sie gut, Flavia. Jetzt ist sie die Einzige ihrer Art auf der ganzen Welt.«
22
I mmer wenn ich im Freien bin und mal so richtig nachden ken will, lege ich mich auf den Rücken, strecke Arme und Beine aus, sodass ich wie ein Seestern aussehe, und schaue in den Himmel. Erst amüsiere ich mich ein Weilchen mit meinen »Schwimmern«, den wurmähnlichen Proteinfäden, die wie kleine dunkle Galaxien kreuz und quer durch mein Gesichtsfeld treiben. Wenn ich es nicht eilig habe, mache ich einen Kopfstand, um sie durcheinanderzuwirbeln, dann lege ich mich wieder hin und schaue mir die Vorstellung an wie einen Zeichentrickfilm.
Heute jedoch ging mir viel zu viel im Kopf herum, weshalb ich mich, nachdem ich fast zwei Kilometer weit von Haus Krähenwinkel weggeradelt war, auf die grasbewachsene Stra ßenböschung legte und einfach nur in den Sommerhimmel blickte.
Etwas, das mir Vater erzählt hatte, wollte mir nicht aus dem Kopf gehen, nämlich dass die beiden, er und Horace Bonepenny, Mr Twining umgebracht hätten; dass sie persönlich für seinen Tod verantwortlich seien.
Wäre es nur wieder mal eines von Vaters Hirngespinsten gewesen, hätte ich es längst wieder vergessen, aber an der Sache war eindeutig mehr dran. Auch Miss Mountjoy war davon überzeugt, dass die Jungen ihren Onkel umgebracht hatten, das hatte sie mir selbst gesagt.
Dass Vater sein schlechtes Gewissen plagte, war nicht zu übersehen. Schließlich hatte auch er darauf gedrungen, Dr.
Kissings Briefmarkensammlung anzusehen, und seine einstige Freundschaft mit Bonepenny machte ihn, auch wenn sie längst abgekühlt war, in gewisser Weise zu dessen Komplizen. Trotzdem …
Nein, an der Sache musste noch mehr dran sein, aber ich kam einfach nicht darauf, was.
Ich lag im Gras und schaute so eindringlich zum blauen Himmelsgewölbe empor, wie die alten, auf Säulen hockenden indischen Fakire damals in die Sonne gestarrt hatten, ehe wir gekommen waren, um sie zu zivilisieren, aber mir wollte partout nichts Brauchbares einfallen. Unmittelbar über mir stand die Sonne wie eine große, gleißende Null und brannte mir auf den leeren Schädel.
Ich dachte messerscharf nach, rasiermesserscharf, skalpellscharf - es half alles nichts.
Aber halt! Genau! Das war’s! Vater hatte nichts getan. Gar nichts! Er hatte im selben Augenblick, als es geschah, gewusst oder zumindest vermutet, dass Bonepenny die kostbare Marke des Rektors gestohlen hatte … und trotzdem hatte er niemandem ein Sterbenswörtchen davon gesagt.
Das war ganz klar eine Unterlassungssünde gewesen: eines jener Vergehen aus dem kirchlichen Verzeichnis der Verfehlungen, das Feely so gern im Munde führte und das anscheinend auf jedermann anzuwenden war außer auf sie selbst.
Aber Vaters Schuld war eine moralische, und von daher mochte ich mich nicht zum Richter
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