Flavia de Luce - Mord im Gurkenbeet - The Sweetness at the Bottom of the Pie
Titelseite war ein schwarz gerahmtes Porträtfoto abgedruckt. Ein ehrwürdiger Herr mit Barett und Talar saß ungezwungen auf der Kante eines Lehrerpults, hielt ein Lateinbuch in der Hand und blickte den Fotografen mit verhaltener Belustigung an. Unter dem Foto stand: »Grenville Twining 1848-1920«.
Das war alles. Kein Wort zu den näheren Umständen seines Todes, kein Nachruf, kein liebevolles Gedenken. Hatte es eine allumfassende Verschwörung des Schweigens gegeben?
An dem Mann war mehr dran, als man auf den ersten Blick vermuten mochte.
Ich blätterte langsamer, diesmal in umgekehrter Richtung, überflog die Artikel und las die gelegentlichen Bildunterschriften.
Als ich zu zwei Dritteln durch war, stach mir der Name »de Luce« ins Auge. Das zugehörige Foto zeigte drei Jungen in kurzärmligen Hemden und mit Schülermützen auf den Köpfen. Vor ihnen, auf einer auf der Wiese ausgebreiteten Decke, stand ein Picknickkorb. Auf der Decke lagen alle möglichen Lebensmittel. Offenbar veranstalteten die drei ein zünftiges Picknick. Es gab einen Laib Brot, ein Glas Marmelade, einen Obstkuchen, Äpfel und etliche Flaschen mit Ingwerbier.
Die Unterschrift lautete: »Wie weiland bei Omar Khayyam - üppig bewirtet aus Greyminsters Küche. Von links nach rechts: Haviland de Luce, Horace Bonepenny und Bob Stanley posieren für ein lebendes Bild nach dem Werk des persischen Dichters.«
Der Junge ganz links, der im Schneidersitz auf der Decke saß, war unverkennbar Vater. Er sah glücklicher und fröhlicher und sorgloser aus, als ich ihn je gekannt hatte. Der lange, knochige Bursche in der Mitte, der tat, als wollte er gerade in ein belegtes Brot beißen, war Horace Bonepenny. Ihn hätte ich sogar ohne Beschriftung erkannt. Seine feuerroten Locken erschienen auf dem Foto als geisterhaft weiße Aura um seinen Kopf.
Ich erschauerte, denn ich musste daran denken, wie er im Tode ausgesehen hatte.
Etwas abseits seiner beiden Kameraden schien der dritte Junge großen Wert darauf zu legen, im Profil aufgenommen zu werden, denn er legte den Kopf unnatürlich schief. Er war ein dunkler Typ, gut aussehend und älter als die beiden anderen, und hatte etwas Verführerisches an sich, wie ein Stummfilmstar.
Ich konnte es nicht erklären, aber sein Gesicht kam mir seltsam bekannt vor.
Dann zuckte ich zusammen, als hätte mir jemand eine Eidechse in den Kragen gesteckt. Ich hatte ihn tatsächlich schon einmal gesehen, und das erst kürzlich! Der dritte Junge auf dem Foto war zu ebenjenem Mann herangewachsen, der sich mir erst gestern als Frank Pemberton vorgestellt hatte, Frank Pemberton, der im Tempelchen neben mir im Regen gestanden hatte, Frank Pemberton, der mir heute Morgen erzählt hatte, er wolle in Nether Eaton ein Grabmal besichtigen.
Mit einem Mal fügte sich eins zum anderen, und ich sah die Lösung so deutlich vor mir, als wären mir, wie einst Saulus, Schuppen von den Augen gefallen.
Frank Pemberton war Bob Stanley, und Bob Stanley war sozusagen »Der Dritte Mann«. Er war es, der Horace Bonepenny in unserem Gurkenbeet umgebracht hatte, dafür hätte ich jederzeit mein Leben verwettet.
Als mit einem Mal alle Puzzleteilchen zusammenpassten, hämmerte mein Herz zum Zerspringen.
Von Anfang an war etwas an Pemberton nicht ganz koscher gewesen, und auch daran hatte ich seit unserer gestrigen Begegnung im Tempelchen nicht mehr gedacht. Was hatte er da doch gleich gesagt?
Wir hatten übers Wetter gesprochen, wir hatten uns einander vorgestellt. Er hatte zugegeben, dass er bereits wusste, wer ich war, weil er meine Familie im Who’s Who nachgeschlagen hatte. Wozu, wenn er doch Vater seit Urzeiten kannte? Hatte diese Lüge meine unsichtbaren Antennen zum Zucken gebracht?
Er hatte einen leichten Akzent gehabt, fiel mir ein. Nicht sehr auffällig, aber dennoch …
Er hatte mir erzählt, dass er an einem Buch arbeitete: Pembertons Herrensitze - Ein Bummel durch die Zeitläufte . Das mochte stimmen.
Was hatte er sonst noch gesagt? Nichts von Bedeutung, ein paar belanglose Bemerkungen darüber, dass wir beide Schiffbrüchige
auf einer einsamen Insel seien. Dass wir Freunde sein sollten.
Da loderte das Stückchen Holzkohle, das die ganze Zeit in meinem Hinterkopf geglüht hatte, mit einem Mal hell auf!
»Bestimmt werden wir irgendwann noch richtig gute Freunde.«
Wortwörtlich. Und wo hatte ich das schon einmal gehört?
Wie ein Ball an einer Gummischnur flogen meine Gedanken zu einem Wintertag zurück. Obwohl es noch
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