Flavia de Luce - Mord im Gurkenbeet - The Sweetness at the Bottom of the Pie
Gagat) mit zwei in Silber eingelegten Initialen: HB.)
H B? Wohnte hier nicht ein Mr Sanders? Wofür konnte HB stehen?
Die Tür flog auf, und jemand fauchte: »Was machst du da?«
Mir blieb fast das Herz stehen. Es war Mary.
»Das Gästebuch konnte ich nicht holen, Dad war … Flavia! Du kannst doch nicht im Gepäck von’nem Gast rumwühlen! Wir kriegen beide einen Riesenärger! Lass das!«
»Schon gut«, sagte ich und griff noch rasch in die Anzugtaschen. Sie waren sowieso leer. »Wann hast du Mr Sanders zuletzt gesehen?«
»Gestern. Gestern Mittag.«
»Hier? In diesem Zimmer?«
Sie schluckte, nickte und wandte den Blick ab.
»Ich hab die Bettwäsche gewechselt, da stand er plötzlich hinter mir und hat mich betatscht. Hat mir die Hand auf’n Mund gedrückt, damit ich nicht schreie. Ein Glück, dass Dad im Hof war und mich gerufen hat. Da hat er’s dann doch mit der Angst zu tun gekriegt. Aber ich hab ihn tüchtig getreten, sogar zweimal! So ein Ferkel! Ich hätt ihm die Augen ausgekratzt, wenn ich drangekommen wär!«
Sie sah mich mit einem Mal verlegen an, als hätte sich jäh ein riesiger gesellschaftlicher Abgrund zwischen uns aufgetan.
»Also ich an deiner Stelle hätte ihm die Augen ausgekratzt und hinterher die Höhlen ausgesaugt«, sagte ich.
Sie riss entsetzt die Augen auf.
»John Marston«, erklärte ich rasch. » Die holländische Kurtisane . Sechzehn-Null-Vier.«
Nach einer ungefähr zweihundert Jahre dauernden Pause prustete Mary los.
»Du bist mir vielleicht eine!«, sagte sie.
Der Abgrund war überbrückt.
»Zweiter Akt«, fügte ich hinzu.
Und schon krümmten wir uns beide vor unterdrücktem Lachen, hüpften, die Hände auf den Mund gedrückt, durchs Zimmer und schnaubten zweistimmig wie ein Pärchen dressierter Seehunde.
»Feely hat es uns damals mit der Taschenlampe unter der Bettdecke vorgelesen«, berichtete ich, worauf wir aus unerfindlichen Gründen noch viel mehr lachen mussten, so lange, bis wir uns kaum noch rühren konnten.
Mary umarmte mich so stürmisch, dass ich keine Luft mehr bekam.
»Du bist echt’ne Marke, Flavia«, sagte sie. »Ganz ehrlich. Komm her - sieh dir das mal an.«
Sie ging zum Tisch, knotete den dünnen Riemen des schwarzen Lederetuis auf und öffnete den Deckel. In dem Etui befanden sich zwei Reihen jeweils sechs kleiner Glasfläschchen, insgesamt also zwölf. Elf waren mit einer gelblichen Flüssigkeit gefüllt, das zwölfte war nur ein Viertel voll. Zwischen den Reihen mit den Behältern war eine halbrunde Vertiefung, als gehörte dort ein Röhrchen oder etwas Ähnliches hinein.
»Was hältst du davon?«, flüsterte sie, als Tullys Organ von fern erscholl. »Glaubst du, das ist Gift? Ist unser Mr Sanders so’ne Art Dr. Crippen?«
Ich entkorkte das nur teilweise gefüllte Fläschchen und führte es an die Nase. Der Inhalt roch, als hätte jemand Essig auf die Rückseite eines Heftpflasters geträufelt, ein beißender Eiweißgeruch, als ob im Nebenzimmer jemand Haare von einem Alkoholiker in Brand gesteckt hätte.
»Insulin«, konstatierte ich. »Euer Mr Sanders ist Diabetiker.«
Mary sah mich verständnislos an, und ich konnte plötzlich nachvollziehen, wie sich Archimedes gefühlt haben musste, als er in der Badewanne saß und »Heureka!« jubelte. Ich packte Mary am Arm.
»Hat Mr Sanders rote Haare?«
»Karottenrote. Woher weißt du das?«
Sie staunte mich an, als wäre ich Madame Zolanda von der Kirmes, mit Turban, Kopftuch, Kristallkugel und allem Drum und Dran.
»Hexerei«, antwortete ich.
8
M ensch!« Mary fischte einen runden Metallpapierkorb unter dem Tisch hervor. »Den hätt ich ja fast vergessen! Dad macht mir die Hölle heiß, wenn er erfährt, dass ich das Ding nicht geleert hab. Er hat’s immer so mit den Bazillen, Dad meine ich, auch wenn man das nicht denken sollte, so wie er aussieht. Zum Glück ist es mir noch eingefallen, bevor … meine Güte! Schau dir bloß diese Sauerei an!«
Sie verzog das Gesicht und hielt den Papierkorb mit ausgestrecktem Arm von sich weg. Ich spähte - ziemlich misstrauisch - hinein. Man weiß nie, worauf man sich einlässt, wenn man seine Nase in anderer Leute Müll steckt.
Der Boden des Papierkorbs war mit Gebäckresten und -krümeln übersät: keine Tüte, einfach Reste, als sei der Betreffende satt gewesen oder hätte genug gehabt. Es sah aus wie die Reste einer Pastete. Als ich in den Korb griff und ein Stück davon herausholte, stieß Mary einen Würgelaut aus und wandte den Kopf
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