Flavia de Luce - Mord im Gurkenbeet - The Sweetness at the Bottom of the Pie
ab.
»Hier!«, sagte ich. »Das Stück ist vom Rand, siehst du? Hier ist es goldbraun, und hat auf einer Seite kleine Teigbröckchen, wie eine Verzierung. Die übrigen Stücke stammen vom Boden, sie sind heller und dünner. Kein besonders duftiger Blätterteig.«
Ich machte eine Pause und setzte hinzu: »Trotzdem, ich habe einen Bärenhunger! Wenn man den ganzen Tag nichts gegessen hat, sieht alles lecker aus.«
Ich machte den Mund auf, als wollte ich den Teigrest hinunterschlingen.
»Flavia!«
Ich hielt mit meiner bröckeligen Beute auf halbem Weg zum Mund inne.
»Hm?«
»Lass den Blödsinn!«, sagte Mary. »Gib’s her, ich schmeiß es weg.«
Eine innere Stimme sagte mir, dass das keine gute Idee war. Die Stimme sagte mir auch, dass die Pastetenreste ein Beweisstück waren, das ich lieber für Inspektor Hewitt und die beiden Sergeanten zurücklassen sollte. Ich erwog es allen Ernstes.
»Hast du ein Stück Papier?«, fragte ich.
Mary schüttelte den Kopf. Ich öffnete den Schrank, stellte mich auf die Zehenspitzen und tastete im obersten Regalfach umher. Wie vermutet, war dort eine Zeitung als Abdeckung ausgebreitet. Gott segne Sie, Tully Stoker!
Behutsam legte ich die größeren Pastetenbrocken auf die Daily Mail und faltete die Zeitung fein säuberlich zu einem Päckchen. Mary sah mir beklommen zu, äußerte aber keine Einwände.
»Für den Labortest«, erklärte ich vielsagend. Offen gestanden hatte ich keine Ahnung, was ich mit dem ekligen Zeug anstellen wollte. Ich würde mir nachher etwas einfallen lassen, jetzt wollte ich Mary nur vorführen, wer hier das Sagen hatte.
Ich stellte den Papierkorb wieder hin und erschrak, als sich darin etwas regte. Ich schäme mich nicht zu gestehen, dass mein Magen instinktiv einen doppelten Salto vollführte. Was war das? Maden? Eine Ratte? Ausgeschlossen - ein so großes Tier hätte ich auf keinen Fall übersehen.
Argwöhnisch linste ich noch einmal in den Papierkorb, und tatsächlich - da ganz auf dem Boden regte sich etwas. Eine Feder! Sie wehte sanft, fast unmerklich, in der Zugluft hin und
her, zitterte wie welkes Laub an einem Baum - ähnlich, wie das rote Haar des Fremden sacht im ersten Morgenwind geweht hatte.
War er wirklich erst heute Morgen gestorben? Das unerfreuliche Zusammentreffen im Garten schien schon ewig her zu sein. Unerfreulich? Jetzt lügst du aber, Flavia!
Mary sah entgeistert zu, wie ich noch einmal in den Papierkorb griff und die Feder mitsamt einem Pastetenrest, der auf den unbefiederten Kiel gespießt war, herausholte.
»Siehst du?« Ich hielt ihr die Feder unter die Nase. Sie wich zurück, so wie Dracula angeblich, wenn man ihn mit einem Kreuz bedrohte. »Wenn die Feder im Papierkorb auf das Gebäck gefallen wäre, wäre das Stück nicht so aufgespießt.
»Vierundzwanzig Amseln in einen Kuchen gebacken war’n …« , rezitierte ich das Kinderlied. »Kapiert?«
»Meinst du echt?« Marys Augen waren groß wie Untertassen.
»Keine Frage, Sherlock! Die Pastete hatte eine Vogelfüllung, und ich ahne auch schon, um was für eine Vogelart es sich handelt.«
Ich hielt ihr das Pastetenstück noch einmal unter die Nase. »Ja, gibt es denn ein köstlich’res Mahl, dem König zu kredenzen?« , deklamierte ich, und diesmal grinste sie mich an.
Genauso würde ich es mit Inspektor Hewitt halten. Jawoll! Ich würde den Fall lösen und ihm die Lösung in Geschenkpapier verpackt überreichen.
»Du brauchst ihn nicht extra hier nach draußen zu bringen«, so hatte er mich aus dem Garten geschickt, diese Knalltüte. Was der sich rausnahm!
Na, dem würde ich zeigen, wo der Bartl den Most holt!
Ich hatte so eine Ahnung, dass Norwegen dabei eine entscheidende Rolle spielte. Ned war nie in Norwegen gewesen, abgesehen davon hatte er Stein und Bein geschworen, dass er
die Schnepfe nicht vor unsere Tür gelegt hatte, und ich glaubte ihm. Demnach schied er als Täter aus - zumindest vorerst.
Der Fremde war aus Norwegen gekommen, das hatte ich aus erster Hand! Ergo (das bedeutet: folglich) hatte der Fremde die Schnepfe womöglich von dort mitgebracht.
Und zwar in eine Pastete eingebacken.
Jawoll! Das war schlüssig! Eine ausgeklügelte List, um den toten Vogel an den neugierigen Zollbeamten Seiner Majestät vorbeizuschmuggeln.
Nur noch ein Schritt, und das Schlimmste war geschafft: Wenn ich den Inspektor nicht fragen konnte, wie er auf Norwegen gekommen war, und den Fremden (da der leider tot war) auch nicht mehr, wen dann?
Mit einem Mal sah
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