Fleisch ist mein Gemüse
werden. Ich begann mich für den Zweiten Weltkrieg zu interessieren, las eine Menge Bücher darüber und baute Kriegsspielzeug von Airfix zusammen. Eine unbeschwerte Zeit! Aber die Musik ließ mich nicht los. Ein halbes Jahr später hörte ich zum ersten Mal die britischeBand Jethro Tull und war elektrisiert. Der Frontmann Ian Anderson hatte sich historische Verdienste um die Rockmusik erworben: Er war der erste Mensch der Welt, der in einer Rockband Querflöte spielte!
Auf einmal wusste ich, was ich wirklich wollte: Ich wollte sein wie Ian Anderson, und ich wollte Querflöte spielen. Das mit Ian Anderson sagte ich Mutter natürlich nicht. Ihr gegenüber tat ich wieder harmlos, und sie willigte auch sofort ein. («Aber du weißt, dass du dann auch üben musst, sonst bringt das nichts.» – «Jaja.») Weihnachten 1976 lag eine nigelnagelneue Querflöte von Yamaha unterm Tannenbaum. Tagelang bestaunte ich das wunderschöne Instrument, baute es zusammen und wieder auseinander und versuchte vergeblich, ihm Töne zu entlocken. So verbrachte ich die Zeit bis zum Unterrichtsbeginn damit, zu Jethro-Tull-Platten vor dem Spiegel zu posieren. Ich stand wie mein großes Vorbild einbeinig wie ein Storch vor dem Spiegel und tat so, als ob. Das war nämlich Ian Andersons Markenzeichen: einbeiniges Spiel. Genial! Ich fand, dass das die beste Performance seit Einführung des Showbusiness überhaupt war. Für meine Playbacks vor dem Spiegel hängte ich mir den guten Pelz von Oma um, denn Ian Anderson und seine Mannen hatten wirre, lange Haare und Bärte, und sie trugen Pelzmäntel. Richtige
Freaks
! Die hysterische Antipelzstimmung war damals noch weitgehend unbekannt. Für mich waren sie die größte Rockband aller Zeiten, scheiß auf die Beatles! Ich habe nie wieder jemandem so nachgeeifert wie dem zauseligen Storchenkönig und über Jahre nichts, aber auch wirklich gar nichts anderes gehört als Jethro Tull. Leider durfte ich mir die Haare nicht so lang wachsen lassen wie meine Vorbilder. Sobald die Spitzen die Ohren bedeckten, bekam der Blick meines Großvaters etwas Starres: «Du siehst ja schon wieder aus wie ein Beatle.» Und ab ging’s zum Bahnhofsfriseur, ausgerechnet zum Bahnhofsfriseur! Meine Familie war einhellig der Meinung, dass derdort tätige Jugoslawe hervorragend Haare schneide. Opa und ich also hin zum Harburger Bahnhof, ein fragender Blick des serbischen Meistercoiffeurs und dann das Todesurteil meines Großvaters: «Fasson!» Ratzekahl wurde die Rübe abgeschabt, und ich sah so aus wie einer aus der geschlossenen Abteilung.
Trotzdem übte ich weiter begeistert Flöte. Nach einem Jahr begann ich auch noch mit Klavierstunden, da man Klavier für die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule braucht. Denn so viel stand fest: Ich würde Berufsmusiker werden! Mutter war zufrieden, nur meine Begeisterung für Rockmusik war ihr nach wie vor suspekt. («Hör doch mal richtig hin, Heinz, da wiederholt sich doch ständig alles, und dazu dieser monotone Rhythmus, immer nur bumbumbum, du bist doch musikalisch, du musst doch hören, dass das primitiv ist.») Ich übte wie ein Verrückter. Manchmal stand ich schon um vier Uhr morgens auf, um vor der Schule zwei Stunden zu flöten. Mit siebzehn kam noch das Saxophon hinzu. Und dann entdeckte ich den Jazz.
Jazz war viel anspruchsvoller als Rock. John Coltrane konnte tausendmal besser spielen als Ian Anderson, Ritchie Blackmore und Emerson, Lake and Palmer zusammen! Der Jethro-Tull-Frontmann gefiel sich immer noch in seiner Rolle als lächerlicher Rockstorch, doch ich war schon viel weiter als er, übte wie ein Irrer Jazzstandards, versuchte hinter das Geheimnis der alterierten Tonleiter zu kommen und wie man am elegantesten von f-Moll nach De s-Dur moduliert.
Acne Conglobata
Nach dem Tod meines Großvaters war es vorbei mit den Besuchen beim Bahnhofsfriseur. Ich pflegte mich von da an aus Kostengründen mit einem Haarschneideapparat für zwanzig D-Mark selbst zu frisieren. Das futuristisch anmutende Gerät, für das unter anderem in der Fernsehzeitung
Hör zu
geworbenwurde, war angeblich für die U S-Marines oder gar den Weltraum entwickelt worden. Die Menschen, die es in der Werbung benutzten, sahen danach ganz manierlich aus. Ich dagegen sah aus wie jemand, der kein Geld hat, um zum Friseur zu gehen. Na egal, ich hatte es sowieso nicht so mit schicken Frisuren und modischer Kleidung. In den Jahren meiner geschmacklichen Prägung waren meine Großeltern mit der
Weitere Kostenlose Bücher