Fleisch ist mein Gemüse
patente Jungbeamte nur selten. Sein Vater war gleichfalls Beamter, und auch sein jüngerer Bruder Andreas wollte einer werden. Jens war leidenschaftlicher Fleischesser und hielt mit seiner Einstellung in dieser Sachenicht hinter dem Berg. So pflegte er oft mahnend zu sagen: «Der Mensch ist kein Beilagenesser.» Von ihm gab es viel zu lernen. Obst ist ein Nahrungsmittel für Bewohner subtropischer und tropischer Regionen; Gemüse dient in erster Linie der farbenfrohen Auflockerung des mit verschiedenen Fleischsorten bestückten Tellergerichts. Deshalb mit Obst und Gemüse sparsam umgehen, weil es sonst schnell zu einer unerwünschten Vorsättigung kommt! Eine schöne heiße Suppe mit Klößen ist allemal besser als fader Salat und weich gekochte Eier – auf jeden Fall schmackhafter als ein Müsli, an dem man ewig zu kauen hat. Nachdem sich Jens einmal bei einer Hochzeitsfeier seinen Teller so richtig mit Braten, Würstchen und Koteletts und den dazugehörigen Soßen voll geladen hatte, brach es plötzlich mit Macht aus ihm heraus:
«Fleisch ist mein Gemüse!»
Außerdem war Jens ein großer Pfeifer. Er pfiff beim Auf und Abbauen, beim Autofahren, auf der Toilette, ja sogar beim Essen zwischen zwei Happen. Seinen schmalen Lippen entfloss ein steter Strom unbekannter Melodien, denn man konnte nie ausmachen, welches Stück er gerade zum Besten gab. Er hatte sich pfeifmäßig freigeschwommen und fühlte sich schon längst nicht mehr dem starren Korsett von Takt und Tonart unterworfen. Ständig quoll diffuses Geflöte aus dem forschen Blondschopf. Vielleicht war das ewige Pfeifen mit ein Grund dafür, dass auch er noch keine Herzensdame gefunden hatte. Manchmal machten Norbert und ich uns respektlose Gedanken über sein Pfeifverhalten in intimen Situationen. Gut möglich, dass er im Zustand höchster Erregung unwillkürlich ein kleines Konzert anstimmte. Aber aus uns sprach nur der Neid der Besitzlosen.
Mit seinen achtzehn Jahren war Torsten unser Benjamin. Er vermied es, mit der übrigen Band mehr zu tun zu haben als unbedingt nötig. In den Pausen blieb er fast immer schwitzend hinter seiner Schießbude sitzen und las unauffällig die Bunte.Er hatte nach der Realschule eine Ausbildung in einem Möbelhaus begonnen und machte keinen Hehl daraus, dass es ihm ausschließlich darum ging, möglichst schnell möglichst viel Geld zu verdienen. Er wollte Karriere machen und so bald als möglich die Tanzmusik an den Nagel hängen. Obwohl er aus eher einfachen Verhältnissen kam, hatte er Anschluss an eine Landpopperclique gefunden. Seine aus Bauunternehmer- oder Getränkegroßhändlerfamilien stammenden Kumpel fuhren schon mit Anfang zwanzig Porsche 911 Cabriolet, gingen teuer essen, knoteten sich in Manier von Syltarschlöchern die Pullover übers Polohemd und machten regelmäßig Abstecher auf die Balearen. Um da mithalten zu können, musste Torsten eben Tanzmusik machen; das Lehrlingsgehalt reichte natürlich nicht für solche Kapriolen.
Auch Gurki wollte Karriere machen, doch im Gegensatz zum bauernschlauen Torsten war er ein Mann der Vergangenheit. Schon seit Jahren strampelte der bald vierzigjährige Riesenschnauzbartträger in seinem Lüneburger Musikladen ums Überleben. Für seine Träume fehlten ihm sämtliche Voraussetzungen. Gern wäre er ein innovativer Geschäftsmann mit frischen Ideen gewesen, in dessen Wortschatz sich Vokabeln wie Synergie, Portfolio, Cashflow, Wertschöpfungskette und Produktpipeline die Klinke in die Hand geben. Stattdessen war er ein immer eine Spur zu devoter Provinzmusikalienhändler mit Mickeymaus-Schlips und Billigsakko, der Blockflöten, Wandergitarren und Fleisch fressende Synthesizer an seine kleinbürgerliche Klientel zu bringen versuchte. Ein Blick auf die traurige Figur in Bundfaltenhose hinter dem Verkaufstresen sprach Bände. Das Leben war für ihn eine einzige Kostenlawine: Alimente für drei Kinder von drei verschiedenen Frauen, Miete für Wohnung, Laden und Schule, Versicherungen, Steuern, Essen, Trinken, Kleidung, Auto, Urlaub, Garten, Hobbys, Geschenke, Diverses. Seine Sprache war so arm wie er selbst. Mit einem erbärmlichenRepertoire von wenigen Versatzstücken bestritt er die gesamte private und geschäftliche Konversation. Die seltenen Gelegenheiten, bei denen er auf den Mucken mal mit einem weiblichen Gast ins Gespräch kam, versiebte er jedes Mal zuverlässig durch sein unsägliches Vertretervokabular. Einmal stand ich bei einer Hochzeit an einem Stehtisch, als
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