Fleisch ist mein Gemüse
Hass auf die ganze Tanzmusik, auf seinen defizitären Musikladen, die elenden Unterhaltszahlungen und seinen eigenen verschrumpelten Muckerkörper. Doch hatte er mittlerweile so viel überstanden, dass er nicht mehr aufgeben würde, niemals.
Übrigens habe auch ich eine Zeit lang ein Stück gesungen beziehungsweise gesprochen, nämlich den Titel
Keine Sterne in Athen:
«Komm, Heinzer, du musst auch mal einen singen.
Keine Sterne in Athen
, das wär doch was für dich!»
Es half alles nichts, ich musste ran. War das schrecklich! Teilnahmslos stand ich vor dem Mikrophon und sagte den Text auf:
«Keine Sterne in Athen,
stattdessen Schnaps in Sankt Kathrein,
er hat den Urlaub nicht gewollt,
sie hat gesagt, es müsste sein.»
Im Publikum hat niemand registriert, dass jetzt auch mal der Saxophonist ein Stück singt. Von wegen: «Ach guck mal, der Saxophonist singt auch mal ein Stück. Das ist ja eine interessante Abwechslung. Lass mal hören.» Nix. Ewige Nichtbeachtung. Ich war mir anfangs nicht sicher, ob die Kollegen mich mit dem Gesangspart demütigen oder mir eine Freude bereiten wollten. Rückschauend glaube ich, dass keine böse Absicht dahinter steckte. Wenn sie mich den Protestsong
Karl der Käfer
hätten singen lassen, wäre ich wahrscheinlich misstrauisch geworden (
Karl der Käfer wurde nicht gefragt, man hat ihn einfach fortgejagt
). Oder
Mein Freund, der Baum
. Oder
Aufstehen
von den heiligen
Bots
. Na ja, die Halbwertszeit des Titels war begrenzt und ich nach einem Jahr endlich erlöst.
Mama
Die Situation im
Deutschen Haus
drohte aus dem Ruder zu laufen. Mutter weigerte sich nach wie vor kategorisch, einen Arzt aufzusuchen. Dabei wäre das dringend nötig gewesen, denn irgendetwas Beunruhigendes war mit ihrer linken Hüfte im Gange. Ich musste ihr ständig Taschentücher mitbringen, da sie eine offene Stelle hatte, aus der Eiter oder sonst etwas Ekliges austrat.
«Das kann doch nicht sein, dass du wegen deiner Stelle jede Woche fünf Pakete Tempos verbrauchst. Du warst seit Jahren nicht beim Arzt. Komm, wir machen einen Termin, und ich fahr dich hin.»
«Ich gehe unter keinen Umständen zu einem Arzt, da kannst du dich auf den Kopf stellen.»
«Dann erklär mir wenigstens, warum.»
«Weil der mich ja doch nur wieder ins Krankenhaus steckt. Ich geh nicht mehr in die Psychiatrie.»
«Wieso soll der dich denn in die Psychiatrie stecken? Doch wohl nicht wegen deiner Stelle!»
«Ich lass mich nicht mehr in die Psychiatrie stecken. Ich bin genug gefoltert worden.»
Ende der Debatte. Bei meinem nächsten Besuch nahm mich Frau Scholz zur Seite und sagte, dass Mutter oft grundlos wütend wäre und sich ständig über irgendetwas beschwerte. Manchmal würde sie in der Gaststube richtiggehend
herumpöbeln
, und das ginge ja nun wirklich zu weit, auch wegen der anderen Gäste. Andere Gäste? Welche anderen Gäste denn? Die Bezüge auf den Stühlen waren wie neu, denn niemals setzte sich irgendein Fremder in die Gaststube. Es gab Familie Scholz, den muffeligen Kellner und einen Koch, den man aber nicht zu Gesicht bekam, weil er die Küche nie verließ. Und dann der Gast. Und der hieß Mutter. Das würde nicht mehr lange gut gehen.
Ging es auch nicht, doch anders, als ich gedacht hatte. Sie stürzte auf dem Weg in die Gaststube und brach sich dabei den Oberschenkelhals, da ihre Knochen ganz und gar spröde geworden waren, weit fortgeschrittene Osteoporose, so genannte Glasknochen. Außerdem hatte sich ihr linker Hüftknochen nahezu aufgelöst. Meine arme Vogelmutter würde nie wieder laufen können, nicht einmal mehr mit dem doofen Deltarad. Daraufhin brach die Höllenpsychose wieder voll durch, und sie wurde erneut in die Geriatrie verlegt. Sie lag bewegungsunfähig in ihrem Bett und wurde von furchtbaren Schimären geplagt, etwa, dass sie von Wasser umgeben wäre, in dem blutrünstige Haie nach ihr schnappten, oder dass nichts sie davor retten könnte, in der nächsten halben Stunde abgeholt und bei lebendigem Leibe verbrannt zu werden. Zudem war sie davon überzeugt, dass
sie allein
die Schuld für
alles
Leid und Elend auf dieser Welt trüge. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es irgendjemandem auf der Welt schlechter gehen könnte als meiner Mutter.
Aber irgendwann hatten sie selbst diese Psychose halbwegs in den Griff bekommen, und es stellte sich abermals die Fragenach ihrem Verbleib. Herrje, was sollte ich nur machen? Ich brachte es einfach nicht fertig, sie in ein Pflegeheim zu
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