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Fleisch ist mein Gemüse

Fleisch ist mein Gemüse

Titel: Fleisch ist mein Gemüse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Strunk
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time
    1995 feierte Gundolf seinen fünfundvierzigsten Geburtstag. Wir waren davon überzeugt, dass es nun langsam mit ihm zu Ende gehen würde. Miete für Laden, Musikschule und Reihenhaus, Unterhaltszahlungen, Garten, Auto, Essen, Trinken, Neuanschaffungen, Friseur, Reparaturen, Kleidung, Urlaub, Versicherungen, Krankenkasse, Zuzahlungen, private Altersvorsorge, Diverses! Das konnte unmöglich länger zu schaffen sein. In der Band wurde der Ton zunehmend schärfer. Norbert und Jens hatten das Kommando übernommen. Auch bei
Tiffanys
hatte der Sequenzer Einzug gehalten, und Gurki wurde Stück für Stück ersetzt, denn sein Gitarrespiel spottete mittlerweile jeder Beschreibung. Selbst seine wenigen verbliebenen Soli kamen längst aus der Maschine. Auch singen durfte er, der nach außen hin immer noch der Chef war, immer weniger. Neue Stücke wurden wie selbstverständlich von Jens oder Norbert intoniert, die alten Gurkilieder hingegen immer weniger eingesetzt, so dass irgendwann nur noch
It’s a real good feeling, Aber dich gibt’s nur einmal für mich
und
Wenn i mit dir doanz
von Nicki übrig blieben, bei dem er auf rührende Art versuchte, die Mundart des
bayrischen Cowgirls
nachzuahmen. Was ist überhaupt aus Nicki geworden? Ich habe den Verdacht, dass sie von den mächtigen Strippenziehern des Schlagerbusiness still und heimlich durch die steindumme Zicke Michelle ersetzt worden ist. Ganz zuletzt stand Gurki nur noch wippend auf der Bühne und ruderte hilflos mit seinen dünnen Ärmchen. Traurig, traurig.
    Schließlich wurde ihm auch noch seine letzte Bastion, dieAnsagen, entzogen («Swingtime is good time, good time is better time»). Er hatte zwar immer noch die Standardsprüche drauf, aber der ganze, große Rest war zu einer eigenständigen Irrensprache mutiert. Zu
Der Junge mit der Mundharmonika
von Bernd Clüver fiel ihm Folgendes ein:
    «Als Nächstes ein heißer Song für alle Cola-Rum-Trinker, die noch auf einem Bein stehen können. Er stammt von einem Schlagermann, der einst als Schlagerjunge einen anderen Schlagerjungen mit silbernem Beißschutz besungen hat. Er ist niemand Geringeres als der Juniorchef der Clüver Reifenwerke, und ihr könnt mir glauben, er ist nicht nur ein Fuchs, er riecht auch wie einer.»
    Oder zu
Stumblin’ in
von Suzi Quatro:
    «Und jetzt, liebe Freunde, Schmusimusi für alle, die noch können, und die allerschönste Schmusimusi kommt immer noch aus den Siebzigern von unserer allerliebsten Schmusimutti Suzi Quatro. Und was hat sie noch immer gesagt? Genau, liebe Freunde!
Stumblin’ in, stopf ihn rein

    Dieser Irre musste gestoppt werden! Norbert und Jens entmachteten den durch unablässiges Sturmfeuer schrottreif geschossenen Bandleader jetzt ganz ungeniert, Gurki kämpfte sein letztes Gefecht. Obwohl er körperlich dazu eigentlich nicht mehr in der Lage war, ließ er sich beim Schleppen nichts anmerken und wuchtete unter Mobilisierung der letzten Reserven sogar den Sarg. Die Mucken wurden für ihn zu einem einzigen, demütigenden Spießrutenlauf. Aus lauter Verzweiflung schrumpfte sein Wortschatz
noch
mehr zusammen.
Ja, das ist ja auch wieder schön hier!; Schön, schön; Schöne Mucke heute wieder; Das ist ja auch ganz schön; Schönes Wetter, schöne Mucke, schöne Kohle. Schön
entwickelte sich zu seiner zentralen Vokabel. Den Niedergang Gurkis illustriert am besten eine Szene, die sich einmal bei den Vorbereitungen zu einer Hochzeit ereignete. Wir saßen nach dem Soundcheck Kaffee trinkend am Stammtisch,als raschen Schrittes der Brautvater auf uns zusteuerte, ein energischer Herr um die sechzig, dem man sofort ansah, dass er Widerspruch nicht gewohnt war. Gurki stand auf und hielt ihm seine ausgestreckte Hand entgegen. «Einen wunderschönen guten Abend, mein Name ist Beckmann, wie geht es Ihnen?»
    Der Brautvater durchschaute ihn im Bruchteil einer Tausendstelsekunde. Er ignorierte die ausgestreckte Hand des Bandleaders und wandte sich stattdessen mit barscher Stimme an uns übrige Verbrecher: «Die Tischmusik beginnt um achtzehn Uhr dreißig. Als Ehrentanz spielen Sie bitte den
Schneewalzer
, ein ausdrücklicher Wunsch des Brautpaares.»
    Dann stiefelte er wieder ab, ohne den Bandleader a. D. auch nur eines Blickes zu würdigen. Für einen winzigen Moment entgleiste Gurkis Gesicht, und es stand die Wahrheit darin geschrieben: Hass. Hass auf Typen, die ihn sein ganzes Leben so behandelt hatten, Hass auf uns, die wir keine Gelegenheit ausließen, ihn zu piesacken,

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