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Fleisch ist mein Gemüse

Fleisch ist mein Gemüse

Titel: Fleisch ist mein Gemüse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Strunk
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stecken, und so entschloss ich mich dazu, sie zu mir ins Zwergenhaus zu nehmen. Zumindest versuchen wollte ich es. Na, das würde eine schöne Wohngemeinschaft werden.
    Es wurde lediglich Pflegestufe zwei bewilligt, aber zusammen mit ihrer Rente reichte es gerade eben so, die Kosten für einen ambulanten Pflegedienst zu decken. Sie wollte wieder in der Stube wohnen, die mit einem Spezialbett gegen Wundliegen ausgestattet wurde. Dann organisierte ich einen Pflegedienst, und so zog Mutter schließlich im November 1995 bei mir ein. Die Pflege übernahm Schwester Renate vom Pflegedienst
Ringelblume
. Sie war eine burschikose Person Mitte dreißig mit einem erstaunlich dicken Po. In ihrer Freizeit fuhr sie viel mit dem Motorrad spazieren; eine richtige Bikerbraut war die Krankenschwester. Einmal erzählte sie mir, sie sei am Wochenende beim Motorradgottesdienst gewesen und es habe ihr sehr gut gefallen. Bei dieser Großveranstaltung versammeln sich jedes Jahr im Juni Tausende von Bikern aus ganz Deutschland vor der Hamburger Hauptkirche
Michel
, um vom so genannten
Motorradpfarrer
den Segen zu empfangen.
    MOTORRADGOTTESDIENST
     
    «Ein tiefes, schweres Brummen,
    Stetig schwillt es an.
    Tausende von Bikern
    Kommen heute an.
     
    Sie sind aus Gelsenkirchen,
    Aus Freiburg und aus Kiel.
    Sie tragen schwarzes Leder,
    Und Hamburg ist ihr Ziel.
     
    Empfangen Gottes Segen
    Aus beruf ’ner Hand.
    Auch der Pastor ist ein Biker
    Mit Herz, Hirn und Verstand.
     
    Sie sind stark, doch sie wissen,
    Es gibt noch eine Macht,
    Viel tougher als ’ne Harley,
    Die schützt dich, wenn es kracht.
     
    Heulende Motoren
    Sind kein Engelschor.
    Doch Bikern, die auch beten,
    Leiht Gott stets gern sein Ohr.
     
    Auch bei Tempo 190
    Fährt jetzt Jesus hinten mit.
    Er gibt dir Mut und Kraft
    Auf deinem Höllenritt.
     
    Der Helm in ihren Händen,
    Die Köpfe sind gesenkt.
    Ab jetzt ist es der Glaube,
    Der ihre Harley lenkt.
     
    Die stolzen deutschen Biker
    Suchen Schutz an diesem Ort.
    Als einzige Knautschzone
    gilt ihnen jetzt Gottes Wort.»
    Das hab ich mir mal so ausgedacht. Vielleicht liest ja zufällig der Motorradpfarrer diesen Text, erklärt ihn zur offiziellen Hymne und macht mich zum Paten der Veranstaltung. Der heiligeHeinz, Schutzpatron der deutschen Biker. Meine Meinung zum Motorradgottesdienst habe ich Schwester Renate gegenüber für mich behalten. Ich hatte mir ein schönes Bild zusammengeschraubt: Irgendwo am Ende der Welt gibt es einen tiefen, dunklen Brunnen, an dessen Grund giftiges Schwermetall, Klärschlamm und ätzende Säuren vor sich hin blubbern. Kein Leben kann in diesem hoch toxischen Gebräu existieren, noch nicht einmal Bakterien, die gezüchtet wurden, um radioaktiven Abfall zu fressen. Doch darunter, in der alleruntersten aller Schichten, dort, wo das Vakuum in sich selbst implodiert, dort steht eine Kirche. Von weitem schon hört man schwere Motorräder im Leerlauf und vernimmt Fetzen einer Predigt. Hier also, am lebensfeindlichsten Ort des Universums, ist der Humus, in dem der Motorradgottesdienst gedeiht. Ein schönes Bild. Ich glaube nicht, dass Schwester Renate das verstanden hätte. Und jetzt Schluss mit dem ganzen Motorradgottesdienst!
    Einen Fernseher lehnte Mutter strikt ab, und lesen mochte sie auch nicht. So lag sie regungslos in ihrem brummenden Antidekubitusbett und schaute an die Decke. Alles, aber auch wirklich alles musste im Bett gemacht werden, essen, trinken, waschen und einmal die Woche sogar abführen. Auf dem Nachttisch stand eine kleine Glocke, die früher fürs Kinderkasperltheater benutzt wurde. Oma und Opa hatten mir oft kleine Stücke vorgespielt. Bevor das Kasperl kam, wurde immer geklingelt, und die Vorstellung fing an. Jetzt wurde geklingelt, und ich kam angewackelt.
    Klingelingeling.
    «Ja, was ist denn?»
    «Komm doch mal.»
    «Ja, gleich.»
    Ich eilte ins Zimmer, um ihren Wünschen nachzukommen. Die Szenerie erinnerte an amerikanische Psychoschocker aus den sechziger Jahren, insbesondere an meinen Lieblingsfilm,das von Robert Aldrich inszenierte Kammerspiel
Was geschah wirklich mit Baby Jane?
mit den anbetungswürdigen Diven Joan Crawford und Bette Davis in den Hauptrollen. Ein Meilenstein der Kinogeschichte! Warum wird so etwas heutzutage eigentlich nicht mehr gedreht? Ich glaube fast, dass keiner das mehr kann. Mutter deutete, wenn ich ihr Zimmer betrat, meist aufgeregt auf ihre mit Blasen-Nierentee gefüllten Schnabeltassen. Auf dem Nachttisch standen immer zwei große und zwei

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