Fleisch und Blut 2: Thriller (German Edition)
seine ganze Aufmerksamkeit in diesem Augenblick der rostigen Klinge, die lautlos durch die Luft glitt.
Direkt in die Richtung von Claires Hals.
96.
Andy betrat jenen Ort, der bis dahin nur ein Mythos für ihn gewesen war. Die älteren Jungs in der Schule hatten ihm zwar davon erzählt, doch insgeheim hatte er das alles als Humbug abgetan. Ihre Geschichten waren für Andy seit jeher nichts weiter gewesen als wirres Seemannsgarn, mit dem sie sich aufspielen und wichtig machen wollten. Denn auch wenn er viele von ihnen sehr gern hatte, so konnte er sich dennoch nie vorstellen, dass jemand überhaupt den Mut hatte, so weit ins Innere des Berges vorzustoßen.
Doch genau in diesem Augenblick, da er es selbst getan hatte, begannen sich seine Zweifel zu legen. Denn vor ihm tat sich ein breiter Raum auf, der ziemlich genau zu all den Beschreibungen passte, die Andy bis dahin gehört hatte:
Wie die Faust aufs Auge...
Der Raum war ungefähr so breit wie fünf Stollen und zu allen Seiten waren tiefe Einkerbungen in den Fels gehauen. Andy wusste, dass es sich dabei um Nischen handelte, in denen sich die Bergleute ausgeruht und manchmal wahrscheinlich auch geschlafen hatten. Außerdem war die Decke unglaublich hoch – so hoch, dachte Andy, dass man sie überhaupt nicht mehr sehen konnte.
Doch das störte ihn in diesem Augenblick überhaupt nicht. Denn insgeheim, dachte er, war er froh, überhaupt etwas sehen zu können. Und das wiederum hatte er dem Kreuz zu verdanken, das er Claire geraubt hatte.
Sein Schein war mit jedem Schritt heller geworden und hatte die Schatten immer weiter zurückgedrängt. Inzwischen, dachte And y, strahlte es beinahe so stark wie eine Taschenlampe. Mit dem einzigen Unterschied jedoch, dass sich das Licht in alle Richtungen zugleich auszubreiten schien. Es war ein goldenes Leuchten, das ihn kreisförmig umgab und jeden noch so kleinen Schatten verschlang.
Die Kreaturen mit den rot glühenden Augen hatten sich inzwischen zurückgezogen und Andy vermutete, dass das Licht des Kreuzes auch dafür verantwortlich war. Doch auch wenn er sie nicht mehr sehen konnte, wusste er, dass sie noch immer da waren. Sie versteckten sich in den dicken Spalten im Fels u nd krochen an der Decke entlang wie Eidechsen. Andy konnte ihre Anwesenheit spüren – irgendetwas ging von ihnen aus. Es war wie eine unsichtbare Strahlung, die mit jeder Minute mehr seine Gedanken durchdrang.
Trotzdem hatte er keine Angst mehr.
Gar keine Angst...
Denn solange er das Kreuz trug, dachte er, war er vor ihnen sicher.
Wie in Abrahams Schoß...
Daher setzte Andy seinen Weg fort – mitten in den Raum, den er noch vor wenigen Minuten nur für ein Gehirngespinst gehalten hatte. Langsam bahnte er sich seinen Weg – genau in die Mitte der steinernen Kuppel. Mit jedem seiner Schritte schien die Aufregung der Vampire zu wachsen. Ein beständiges Zischen und Knurren hallte von den Wänden wider. Es wurde lediglich hin und wieder von dem mahlenden Geräusch durchbrochen, das aus den Schatten zu ihm drang. Es klang wie...
... Zähneknirschen.
Nicht zuletzt deswegen wusste Andy, dass er sein Ziel erreicht hatte.
Instinktiv blickte er zu Boden und im gleichen Augenblick sah er es:
Direkt vor seinen Füßen war ein Loch in den Fels gehauen. Es hatte ungefähr den Durchmesser von einem Meter und Andy ahnte, dass es wahrscheinlich sehr tief war.
Sehr, sehr, tief...
In der Schule hatte er gelernt, dass die Bergleute mehrere Brunnen im Inneren des Bergewerkes ausgehoben hatten, um an genügend Wasser zu kommen, das sie für ihre Arbeit brauchten. Und dieses verdammte Loch, dachte Andy, musste einer dieser Brunnen sein. Auch wenn das Wasser darin inzwischen vielleicht längst versiegt war, so bestand für ihn in diesem Augenblick kein Zweifel darüber, dass er recht hatte.
Gleichzeitig wusste er jedoch auch, dass das vollkommen egal war. Ob Brunnen oder nicht, dacht e er, er hatte sein Ziel erreicht. Er musste nur noch eine letzte Sache tun, um seine Mutter und sich selbst zu retten.
Nur noch eine winzige Sache...
Daher trat er einen weiteren Schritt an das Loch heran und blickte in den Abgrund hinab. Die Schatten darin waren so dicht, dass selbst der Schein des Kreuzes nichts gegen sie auszurichten vermochte. Außerdem konnte Andy sehen, dass es keine gew öhnlichen Schatten waren, die ihm in diesem Augenblick förmlich entgegenschlugen. Vielmehr war es ein pechschwarzes Brodeln, das immer neue Formen gebar, während es mit jeder
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