Fleisch und Blut 2: Thriller (German Edition)
hatten, so als hätte jemand sie nur kurz zu Seite geschoben, um einen heimlichen Blick auf mich zu werfen. Allein der Gedanke daran reichte aus, um mir einen eiskalten Schauder über den Rücken zu jagen.
‚Bist du noch dran, Andy?‘, fragte Jerry. Es gelang ihm nicht, die Ungeduld in seiner Stimme zu zügeln.
Gleichzeitig fragte i ch mich zum ersten Mal auch, ob das wirklich Jerrys Stimme war, die durch den Telefonhörer zu mir drang. Denn es war ein tiefer, krächzender Laut, in dem die Vokale beinahe völlig untergingen.
Während ich darüber nachdachte, erinnerte ich mich wieder an all die Geschichten, die ich an diesem Tag auf dem Schulhof gehört hatte. All die Schauermärchen, mit denen wir uns gegenseitig Angst gemacht hatten. Und das , Miss Hagen, sorgte in diesem Augenblick nicht gerade dafür, dass ich mich besser fühlte.
‚Ja‘, sagte ich, ‚ ja, ich bin noch dran.‘
‚Na, was sagst du?‘, fragte er. ‚W ollen wir ein paar Ratten zur Hölle schicken, mein Freund?‘
‚Nein‘, sagte ich, ‚ich muss passen, Jerry. Es ist schon spät und meine Mom lässt mich heute bestimmt nicht mehr vor die Tür. Tut mir leid, Mann.‘
‚Ach, komm schon...‘, sagte Jerry sofort und ich konnte deutliche hören, wie er sich Mühe gab, seiner Stimme einen normalen Klang zu verleihen, ‚...immerhin wäre es nicht d as erste Mal, dass du dich raus geschlichen hättest, oder?‘
Das s timmte zwar, Miss Hagen, ich hatte mich tatsächlich schon einige Male nach Einbruch der Dunkelheit raus geschlichen. Und vielleicht hätte ich es an diesem Abend auch gemacht, wenn...wenn alles so gewesen wäre wie sonst auch. Doch zu diesem Zeitpunkt war nichts mehr so, wie sonst immer gewesen war, Miss Hagen.
Ganz und gar nicht.
Doch trotz all dieser Gedanken erzählte ich Jerry nichts davon. Ich wollte nicht zugeben, dass ich die Hosen inzwischen gestrichen voll hatte. Von ihm, der Art, wie er sprach und alldem, was an diesem Tag auf der Veranda passiert war. Zu diesem Zeitpunkt spürte ich bereits, dass irgendetwas in der Stadt verdammt faul war. Doch nicht nur mit der Stadt, sondern auch mit meinem besten Freund – mit Jerry.
Deswegen versuchte ich, ihn von der Idee abzubringen:
‚Lass gut sein, Kumpel‘, sagte ich, ‚wir verschieben das mit dem Feuerwerk besser auf ein andermal, wenn es dir wieder besser geht. Du hörst dich beschissen an, Mann.‘
‚Mir ging es aber noch nie besser, Andy‘, sagte er zwar, aber ich tat so, als hätte ich diesen Einwand nicht gehört.
Stattdessen wollte ich das Gespräch nur noch beenden. Deswegen kam ich gleich darauf auch auf die Mathematikunterlagen zu sprechen, die ich auf der Veranda gelassen hatte.
Denn ich wusste, dass dieses Thema Jerry schlagartig einen Dämpfer verpassen würde. Wenn es überhaupt etwas gab, auf das er nicht gut zu sprechen war, dann war es die gute alte Mathematik, Miss Hagen:
‚Ich habe dir heute Nachmittag ein paar Mathematikübungen vorbeigebracht – Textaufgaben und all so ein Kram , du weißt schon. Sie müssten noch auf der Veranda liegen, falls sich die Waschbären nicht inzwischen daran zu schaffen gemacht haben. Mister Brinkman meint, dass du sie dir besser ansehen solltest, wenn es dieses Jahr mit deiner Versetzung noch etwas werden soll.‘
Kaum hatte ich die se scharfen Worte ausgesprochen, wusste ich auch schon, dass ich damit einen wunden Punkt bei Jerry getroffen hatte. Denn für einige Augenblicke sagte er kein Wort. Er war mucksmäuschenstill, - so still, dass ich ihn nicht einmal mehr atmen hörte.
‚Bist du noch dran?‘, fragte ich schließlich.
‚Ja, Andy‘, sagte er, ‚ich bin noch dran und ich will dir etwas sagen, mein Freund.‘
‚ Dann schieß los‘, sagte ich und wartete gespannt darauf, welche Beleidigungen er in diesem Augenblick wohl auf mich loslassen würde.
Denn so war Jerry nun einmal, Miss Hagen – ungehalten und stur gleichermaßen. Gleichzeitig wusste ich jedoch auch, dass ich ihm in diesem Augenblick kein Wort übelnehmen würde. Denn ich hatte eine klare Grenze überschritten, mit dem was ich gesagt hatte. Jerry auf seine Schwächen in der Schule anzusprechen, war ungefähr so, wie mir unter die Nase zu reiben, dass mein Dad einfach abgehauen war. Es war einfach eine unsichtbare Linie, die von niemandem überschritten werden durfte.
Und am allerwenigsten von einem guten Freund. Vielleicht sogar dem besten Freund, den man auf der ganzen weiten Welt überhaupt hatte.
Die Sekunden verstrichen
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