Fleisch und Blut 2: Thriller (German Edition)

weiteres Stück Kuchen wäre.
    Ich war so sehr in diesem Gedanken versunken, dass ich zunächst gar nicht bemerkte, dass es am anderen Ende der Lei tung inzwischen aufgehört hatte zu klingeln.
    Noch während ich in die Totenstille lauschte, die durch den Hörer in mein Ohr drang, erklang am anderen Ende eine krächzende Stimme:
    ‚Hallo Andy.‘
    Ich zuckte bei dem Klang zusammen und hätte dabei fast den Telefonhörer fallen gelassen. Mein Herz beschleunigte und trotz der Hitze in der Küche richteten sich sämtliche Härchen auf meinen Armen auf.
    ‚Jerry? Bist du das?‘, fragte ich, weil ich die Sti mme nicht genau zuordnen konnte. Obwohl sie mir zwar bekannt vorkam, konnte ich dennoch nicht sofort sagen, mit wem ich da gerade sprach.
    ‚Ja, Andy‘, sagte die Stimme, ‚ ja, ich bin’s.‘
    Meine Aufregung legte sich ein bisschen. Im gleichen Augenblick begann ich mir einzureden, dass die Grippe daran schuld war, dass Jerry so komisch klang. Sein Hals, dachte ich, ist vom vielen Husten wahrscheinlich wund und seine Nase vollkommen verstopft - deswegen klang er so anders.
    Doch noch ehe ich diesen Gedanken weiter vertiefen konnte, fuhr Jerry fort:
    ‚Was machst du gerade?‘, fragte er.
    ‚Ich sehe mit meiner Mom fern , warum?‘, antwortete ich.
    ‚Lust , etwas zu unternehmen?‘, fragte er.
    ‚Jetzt noch?‘, fragte ich und war f dabei unwillkürlich einen Blick auf die Küchenuhr. Es war halb neun abends und draußen war es bereits stockdunkel. Die Chancen, dass mich meine Mutter um diese Uhrzeit noch irgendwo allein hingehen ließ, standen nicht nur schlecht, Miss Hagen, - es war vollkommen ausgeschlossen.
    ‚Ja klar‘, sagte Jerry, ‚ich hab eine kleine Überraschung für dich. Eigentlich wollte ich es dir erst sagen, wenn wir uns treffen, aber ich denke, ich kann genauso gut gleich damit rausrücken.‘
    Er machte erst eine kleine Pause, um mich ein bisschen auf die Folter zu spannen, ehe er schließlich fortfuhr:
    ‚ Mein Vater hat heute eine Kiste Feuerwerkskörper von der Arbeit mitgebracht – nicht diesen Kinderkram, den man zu Neujahr in der Mainstreet kaufen kann, Andy, sondern die richtigen Dinger aus Mexiko. Er sagt, irgendein Chico hätte sie ihm auf einer Raststätte im Süden verkauft. Na, was sagst du? Lust, das Zeug oben beim Schlund auszuprobieren? Wir könnten ein paar Ratten in die Luft sprengen.‘
    Beim ‚Schlund‘, Miss Hagen, handelt es sich um den Eingang zu dem stillgelegten Bergwerk, - oben in den Hügeln, hinter der Stadt. Früher wurde dort Eisenerz abgebaut, doch inzwischen ist es nichts weiter als eine in Stein gehauene Ruine, die bis tief ins dunkle Herz der flachen Hügel reicht. Die Hügel, Miss Hagen, die einst der Stadt ihren Namen gaben.
    Die Teenager aus Plain Rock trafen sich abends dort , um Bier zu trinken und Partys zu feiern. Die Kinder in meinem Alter hingegen gingen meist tagsüber dort rauf, um zu spielen und mit Luftgewehren auf Ratten zu schießen. Dort oben gibt es nämlich die größten Ratten, die man sich überhaupt vorstellen kann – mit Schwänzen, so lang wie Bullenpeitschen.
    Jerry und ich hatten dort oben schon ganze Nachmittage damit verbracht, Unsinn zu treiben. Doch bis zu diesem Zeitpunkt waren wir noch kein einziges M al bei Dunkelheit dort gewesen. Und ganz ehrlich gesagt habe ich auch noch nie wirklich Lust verspürt, nachts dort hinzugehen. Außerdem konnte ich mir nicht vorstellen, dass Jerry in diesem Punkt anderer Meinung war. Immerhin war der Schlund zwei Meilen außerhalb der Stadt. Dort gab es keine Straßen, keine Beleuchtung, nichts. Stattdessen lauerten dort draußen Kojoten und wilde Hunde, die gerade im Frühjahr oft die Tollwut hatten. Von allen nur erdenklichen Orten, an denen wir hätten spielen können, war das wahrscheinlich der beschissenste.
    Das war der eine Grund dafür, dass mir Jerrys Vorschlag nicht gefallen hatte. Der andere, Miss Hagen, war die Tatsache, dass ich wusste, dass das mit dem mexikanischen Feuerwerk einfach nicht stimmen konnte:
    Denn Jerrys Vater war an diesem Tag nicht bei der Arbeit gewesen. Ganz sicher nicht sogar! Sein Wagen war in der verdammten Auffahrt gestanden – daran konnte ich mich nur zu gut erinnern.
    Daher merkte ich sofort, dass irgendetwas an Jerrys Geschichte nicht stimmen konnte, Miss Hagen. Und im gleichen Augenblick musste ich wieder an das Kichern denken, das ich an diesem Tag auf der Veranda gehört hatte. Das Kichern und auch daran, wie sich die Vorhänge bewegt