Fleisch und Blut
aber ich hebe eine Karte mit Bemerkungen auf ...« Er bückte sich tief, begann, Papiere aus Schubladen zu ziehen, und legte sie dann auf den Schreibtisch. »Okay, die hätten wir.« Er schwenkte einen Stapel blauer Karteikarten. »Meine Notiz lautet: ›Viel Zorn, wenig Daten.‹ Wenn ich mich richtig erinnere, war es ein halber Roman, Alex.«
»Zorn auf die Modebranche?«, fragte ich.
»Soweit ich mich entsinne. Vermutlich das übliche Feministenzeug - die Frau als Ware, unterwürfige Rollen, die durch eine unrealistische Auffassung von Weiblichkeit erzwungen werden. Ich bekomme in jedem Quartal mindestens zwei Dutzend. Alles berechtigte Argumente, aber manchmal ersetzen sie Fakten durch Leidenschaft. Ich kann mich wirklich nicht an diese spezielle Hausarbeit erinnern, aber wenn ich raten müsste, würde ich das sagen. Also ist sie verschwunden, ohne Mom Bescheid zu sagen. Ist das ungewöhnlich?«
»Mom zufolge ja.«
Er kratzte sich am Kinn. »Yeah, als Vater würde mich das beunruhigen.« Er setzte die Füße auf den Boden, stützte die Hände auf die Knie und sah mich über seine Brillenränder hinweg an. »Es ist komisch - im Grunde ist es alles andere als komisch -, dass du wegen einer verschwundenen Studentin vorbeikommst. Als du es am Anfang sagtest, bekam ich einen Schreck. Weil letztes Jahr etwas Ähnliches passiert ist. Ein anderes Mädchen - eine Art Schönheitskönigin auf dem Campus. Shane Soundso, oder Shana ... Shanna - ich kann mich nicht an den genauen Namen erinnern. Hat eines Nachts ihr Wohnheim verlassen und ist nie zurückgekommen. Ein paar Tage lang herrschte große Aufregung auf dem Campus. Es hat mir mehr zu schaffen gemacht als normal, weil Marge und ich gerade unsere Lisa nach Oberlin geschickt hatten. Sie hat, wenn überhaupt, ihre Trennungsangst prima bewältigt, wir beide aber nicht so gut. Ich hatte mich gerade ein bisschen beruhigt - hatte aufgehört, das arme Kind zwölf Mal am Tag anzurufen -, da passiert diese Shanna-Sache.«
»Sie wurde nie gefunden?«
Er schüttelte den Kopf. »Der absolute Alptraum der Eltern. Es gibt kein Wort, das ich mehr hasse als Schlusspunkt - Psychogewäsch der Pop-Ära. Aber Ungewissheit muss schlimmer sein. Ich bin sicher, es hat nichts mit dem Teague-Mädchen zu tun - es hat mich nur daran erinnert.«
»Gene, was diesen Forschungsjob betrifft, gibt es da etwas, das ich übersehen haben könnte? Ich habe staatlich geförderte Projekte und private Stiftungen überprüft, bis hin zu Mitarbeitern auf Teilzeitbasis.«
Er dachte eine Weile nach. »Vielleicht etwas außerhalb der Uni? Bezahlte Forschungsprojekte. Es gibt entsprechende Anzeigen im Daily Cub. ›Sind Sie schlecht gelaunt oder deprimiert? Sie könnten klinisch depressiv und damit für unsere coolen kleinen klinischen Versuche qualifiziert sein.‹ Pharmazeutische Ergebnisstudien; offensichtlich sieht die FDA - oder wer auch immer sie in Auftrag gegeben hat - kein Problem darin, die Probanden zu bezahlen. Der Cub erscheint zwar erst wieder im nächsten Quartal, aber viel- leicht findest du ja etwas. Doch was würde dir das über ihren derzeitigen Aufenthaltsort verraten?«
»Wahrscheinlich nichts«, sagte ich. »Es sei denn, Lauren hat sich für eine Studie gemeldet, weil sie ein bestimmtes Problem hatte - eine Depression beispielsweise. Depressive Menschen steigen schon mal aus.«
»Würde es ihre Mutter nicht wissen, wenn sie derart niedergeschlagen ist?«
»Schwer zu sagen. Vielen Dank für den Tipp, Gene - ich werde nachsehen.«
Ich stand auf, stellte den Kaffee auf einen Tisch und ging zur Tür.
»Du engagierst dich in diesem Fall aber wirklich sehr, Alex.«
»Frag nicht.«
Er starrte mich an, sagte jedoch nichts.
Er war zwar kein Kliniker mehr, wusste aber, wann er nicht weiterbohren durfte.
7
Die Story war leicht zu finden.
Shawna Yeager.
Schönes Gesicht, herzförmig, faltenlos, gekrönt von einem Turm hellblonder Korkenzieherlocken. Mandelförmige Augen, erschreckend dunkel. Elfenhaftes Kinn, perfekte Zähne, ihre Schönheit ungeschmälert von der körnigen Schwarzweiß-Verkleinerung, dem kalten Metallrahmen des Microfiche-Apparats und der abgestandenen Luft im Mikrofilmgewölbe der Universitätsbibliothek.
Ich starrte auf herrliche Schultern, die von einem trägerlosen Kleid hervorgehoben wurden, und auf Pailetten, die das Oberteil zum Funkeln brachten. Das Kleid, das Shawna Yeager bei ihrer Krönung zur Olivenkönigin getragen hatte. Eine alberne kleine Krone aus
Weitere Kostenlose Bücher