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Fleisch und Blut

Fleisch und Blut

Titel: Fleisch und Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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Lesebrille mit schwarzer Fassung saß mitten auf der gebogenen, schiefen Hakennase. Er grinste und legte die Brille auf den Schreibtisch, den Laptop ebenfalls. »Auf keinen Fall. Du rasselst durch.«
    Er sprang auf zu seiner vollen Größe von einsdreiundneunzig, ein Straußenhals, schlaksige Glieder, übergroße Hände, wippender Kopf, ergriff meine Schultern und schüttelte verwundert den Kopf, als kündige mein Kommen die Wiederkunft von irgendetwas Besonderem an.
    Gene ist einer der extrovertiertesten Menschen, die ich kenne, ein Muster an ungekünstelter Freundlichkeit, ein hyperaktiver Maestro der stürmischen Begrüßung. Seine gute Laune ist nahezu konstant, und er ist alles andere als kompliziert. Ungewöhnliche Charakterzüge bei einem Psychologen. So viele von uns waren introspektive Kids mit einer blühenden Phantasie, die sich für das Fach entschieden, weil sie herauskriegen wollten, warum unsere Mütter so deprimiert waren, egal was wir taten. Nach dem Examen fanden viele Kollegen, er sei zu nett, um real zu sein, und trauten ihm nicht über den Weg. Ich war mit ihm immer gut ausgekommen, obwohl unsere Beziehung kaum über gewagte Witze oder ein gelegentliches gemeinsames Mittagessen hinausging.
    »Also«, sagte er. »Alex. Wie lange ist es her?«
    »Eine Weile.«
    »Lichtjahre, Mann. Hier, setz dich - Kaffee?«
    Ich nahm einen Stuhl, akzeptierte einen Becher mit etwas Starkem, Bitterem, das vage an Kaffee erinnerte. Er kickte die Sandalen unter den Schreibtisch. Sein Zimmer war winzig, und seine Größe machte es nicht geräumiger. Er hockte da wie ein von einem grausamen Besitzer eingesperrtes Haustier.
    »Du arbeitest in den Ferien?«, fragte ich.
    »Die beste Zeit, weniger Ablenkung. Außerdem, als ich noch praktizierte, hatte ich fünfzig, sechzig Patienten pro Woche. Das war richtige Arbeit. Diese akademische Gaunerei ist legalisierter Diebstahl. Neun Monate im Jahr, du bestimmst deine Arbeitszeit.« Er lachte. »Die Typen beklagen sich gern, aber es ist ein bezahlter Urlaub.«
    »Wann hast du den Wechsel vollzogen?«, fragte ich.
    »Vor drei Jahren. Ich hab die Praxis meinen Partnern verkauft und dem Fachbereich ein Angebot gemacht, das sie nicht ablehnen konnten: Sie übernehmen mich auf Teilzeitbasis, kein Kündigungsschutz, keine Sozialleistungen, und ich habe eine Menge Lehrveranstaltungen; dafür bekomme ich eine volle klinische Professur und werde in kein Komitee berufen.«
    »Keine Publikationsverpflichtungen.«
    »Genau, aber das Lustige ist, dass ich doch ein Forschungsprojekt betreibe, obwohl ich es gar nicht vorhatte. Das erste Mal seit Jahren. Ich stelle Fragen, die mich wirklich interessieren, anstatt am laufenden Band irgendwelchen Müll abzusondern, um mir irgendwelche Götter gewogen zu stimmen, die meiner Karriere förderlich sein könnten. Und ich liebe die Lehre, Mann. Die Kids sind super. Egal was die blöden Experten behaupten, die Studenten werden klüger.«
    »Was für ein Projekt ist das?«, fragte ich.
    »Politische Einstellungen bei Kindern. Wir gehen in Grundschulen und versuchen zu beurteilen, wie sie Kandidaten wahrnehmen. Du wärst überrascht, wie viel Kinder über diese Schleimscheißer wissen, die sich um ein Amt bewerben. Ich komme mir vor, als wäre ich zu Hause - Sozialpsychologie war meine erste Liebe. Ich hab mich für die klinische entschieden, weil ich das auch mochte, und ich dachte, es wäre nett, Leuten zu helfen und so. Aber hauptsächlich, weil ich Kohle verdienen musste. Verheiratet, mit Kindern - anders als du bin ich nie ein flotter Junggeselle gewesen.«
    »Ich glaube, du verwechselst mich mit jemand anderem, Gene.«
    »Das glaube ich nicht, Mann. Ich erinnere mich deutlich, dass du im ganzen Fachbereich begehrliche Blicke auf dich gezogen hast. Selbst die Mädchen, die sich nicht die Beine rasierten, haben dich auf diese Weise angesehen.«
    »Das muss mir entgangen sein«, erwiderte ich.
    Er grinste. »Hört ihn euch an, diese Schüchternheit gehört alles zum Charme. Aber egal... du siehst großartig aus, Alex.«
    »Du auch.«
    »Ich sehe so aus wie immer - Ichabod Grane auf Metamphetamin. Aber ja, ich tue, was ich kann, um in Form zu bleiben, habe mit Langstreckenwandern angefangen. Marge und ich haben im letzten Sommer den John Muir Trail absolviert, im Jahr davor waren wir in Alaska.« Er stellte Stevie Ray leiser.
    Ich nannte ihm den Titel des Songs.
    Er sagte: »S. R. V. Er war der Größte. Traurige Geschichte, oder? Kämpft sein ganzes

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