Fleisch und Blut
nicht direkt vor ihrer Wohnung warten lassen. Aber vielleicht ist sie nicht allzu weit gelaufen.« Er zog sein Notizbuch hervor und kritzelte wie wild.
»Noch etwas«, sagte ich. »Da sie in einer Branche arbeitete, in der Bargeld zählt - was für ihre Ausgaben auch ganz praktisch war -, hat sie vielleicht eine Menge Geld in ihrer Handtasche gehabt.«
Er sah auf. »Ein Raubüberfall?«
»Möglich ist es, oder nicht?«
»Ich denke schon ... Auf jeden Fall ist der Geldgeruch jetzt faulig geworden.« Er legte die Steuererklärungen auf den Schreibtisch. Außer Papieren lag nichts darauf. Das legte eine andere Frage nahe.
»Wo ist ihr Computer?«, sagte ich.
»Wer sagt, dass sie einen hatte?«
»Sie war Studentin. Jeder auf dem College hat einen Computer, und Lauren war eine Einser-Studentin.«
Er wühlte die Kommodenschubladen noch einmal durch, fand einen Taschenrechner und schnaubte angewidert. Er ging zum Schrank zurück, suchte in den Ecken und auf den Borden. »Nada. Also hat sie vielleicht Daten gespeichert, die jemand haben wollte. Ein Buch mit Freiern beispielsweise. Wenn es ein hohes Tier gab, das Wert auf seine Privatsphäre legte.«
»Eine Freier-Datenbank«, sagte ich. »Sie war eine moderne junge Frau.«
Er runzelte die Stirn. »Ich werde Salander fragen, ob er je einen Computer gesehen hat. Und ich hab an noch etwas gedacht, das hier sein sollte, aber nicht hier ist. Empfängnisverhütung. In ihren Schubladen sind keine Pillen und kein Pessar.«
»Auf ihren Vis a-Abrechnungen sind auch keine Arztrechnungen. Also hat sie ihre Ärztin entweder bar bezahlt oder den Student Health Service in Anspruch genommen.«
»Prostituierte werden regelmäßig untersucht«, sagte er.
»Callgirls der Spitzenklasse müssten eigentlich besonders vorsichtig sein. Sie muss irgendeine Verhütungsmethode benutzt haben, Alex - ich werde noch mal im Badezimmer nachsehen. Warum wirfst du nicht inzwischen mal einen Blick auf ihre Bücher? Vielleicht fällt dir ja dabei irgendwas ins Auge.«
Ich begann oben in dem linken Regal und ging zweieinhalb Jahre Pflichtlektüre durch.
Grundlagen der Mathematik, Algebra, Geometrie, Naturwissenschaften, Biologie, Chemie.
Wirtschaftswissenschaften, Politologie, Geschichte, von Englischprofessoren bevorzugte Belletristik. Mit rosafarbenem Textmarker unterstrichene Absätze. Gebraucht-Aufkleber der Buchhandlung am Santa Monica College.
Das Regal daneben enthielt nur Soziologie und Psychologie - Lehrbücher mit Eselsohren und Sammlungen von Zeitschriften, die in durchsichtigen Plastikkästen aufbewahrt wurden. Die Bände auf dem obersten Regalbrett entsprachen Laurens Kursen im letzten Quartal. Weitere rosafarbene Unterstreichungen, Gebraucht-Aufkleber des Buchladens an der Uni - die Rechnungen, die ich gerade in ihren Visa-Unterlagen gesehen hatte. Fünfzig Riesen pro Jahr, aber sie hielt ihre Cents zusammen.
Ich wandte mich den Zeitschriften zu, öffnete den ersten Plastikkasten und fand eine Sammlung dreißig Jahre alter Hefte der Developmental Psychology, von denen jedes den verblichenen Stempel eines Trödelladens der Heilsarmee auf der Western Avenue und ein Preisschild über zehn Cent trug. Keine Quittung, kein Verkaufsdatum.
Der Rest der Zeitschriften war vergleichbaren Alters und ähnlicher Herkunft: von der American Cancer Society ausgesondert, Hadassah, City of Hope. In einer Ausgabe von Maslows Toward a Psychology of Being fand ich eine Goodwill-Quittung, die sechs Jahre alt war. Ein paar Zettel aus der gleichen Zeit tauchten in anderen Bänden auf.
Vor sechs Jahren.
Lauren hatte ihre autodidaktische Erziehung mit neunzehn begonnen, fast vier Jahre, bevor sie sich am Junior College angemeldet hatte.
Intellektuelle Neugier. Ehrgeiz. Glatte Einsen. All das hatte sie nicht davon abgehalten, ihren Körper zu verkaufen, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Aber warum sollte es das auch? Wissen kann auf alle möglichen Arten Macht sein.
Ich sah mir das Material genauer an, das Lauren erworben hatte, bevor sie wieder zur Schule gegangen war. Das meiste davon drehte sich um zwischenmenschliche Beziehungen und Persönlichkeitstheorie. Keine unterstrichenen Abschnitte; damals hatte sie sich ihren Büchern mit der Ehrfurcht einer Anfängerin genähert.
Ich schüttelte jedes Buch aus und fand keine losen Zettel.
Zurück zu der Pflichtlektüre im obersten Regal. Nichts Erleuchtendes oder Tiefgründiges in den rosa Passagen, nur eine weitere Studentin, die darauf
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