Fleisch und Blut
spekulierte, was in der Abschlussprüfung vorkommen könnte.
Ich war kurz davor aufzugeben, als mir etwas am Rand ihres Buchs über Lerntheorie ins Auge fiel. In sauberer Druckschrift, die mit der übereinstimmte, die ich in ihren Schulheften gesehen hatte:
INTIM. PROJ. 714 555 3342
Dr. D.
Das rief eine Erinnerung wach: die Studie zur »menschlichen Intimität«, die drei Wochen vor Shawna Yeagers Verschwinden im Cub inseriert gewesen war. Telefonnummer in Orange County, die jetzt zu einer Pizzeria in Newport Beach gehörte. Dieselbe Vorwahl, aber diese Nummer war anders.
Es gab keinen Beweis dafür, dass Shawna Yeager die Anzeige je gesehen, geschweige denn sich darauf gemeldet hatte, aber sie hatte im Hauptfach Psychologie studiert... von ihren Ersparnissen gelebt.
Intim. Proj.
War das Laurens Ding gewesen? War es das, was sie als »Forschungsprojekt« in Erwägung gezogen hatte?
Aber Lauren hatte das Geld nicht gebraucht.
Vielleicht war sie gierig gewesen. Oder etwas anderes hatte das Inserat für sie attraktiver gemacht.
Etwas Persönliches, wie Gene Dalby vermutet hatte.
Intimität. Eine schöne, junge Frau, die Intimität für Bargeld vortäuschte.
Dr. D.
Wie Dalby beispielsweise? Nein, Gene behauptete, sich kaum an sie zu erinnern, und ich hatte keinen Grund, das zu bezweifeln. Und seine Forschung betraf Politik, nicht Intimität.
Noch ein Name eines ihrer Professoren begann mit einem D - de Maartens. Die Psychologie der Wahrnehmung. Jede Menge Ds.
Wem wollte ich etwas vormachen - ich wusste, wessen Initialen sie da notiert hatte.
Sie hatten einen großen Einfluss auf sie, Doktor.
Als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie für das Privileg bezahlt, ihren Zorn bei mir loszuwerden - nicht unähnlich dem Muster, das sie bei ihrem Vater angewandt hatte.
Jahre später hatte sie an mich gedacht und diese Notiz gemacht.
Intimität...
Hatte sie etwas von mir gewollt? Und nie den Mut aufgebracht, mich darum zu bitten?
Ich dachte an jenen letzten, zornerfüllten Termin, wie Lauren das Bündel Geldscheine gezückt hatte und mich ihre Verachtung hatte spüren lassen. Ich hatte immer den Eindruck gehabt, das wäre nicht alles gewesen, was sie gewollt hatte.
Aber was war ihre Absicht gewesen, als sie zum Telefon gegriffen und meinen Auftragsdienst angerufen hatte?
Was hatte ich ihr nicht gegeben?
12
Milo kam zurück und schüttelte den Kopf. »Nichts - vielleicht hat sie ihre Pillen in der Handtasche gehabt.«
Ich sagte: »Hier ist etwas«, zeigte ihm die Notiz und erzählte ihm von der Anzeige, die vor Shawna Yeagers Verschwinden in der Zeitung gestanden hatte.
»Anzeigen werden wahrscheinlich die ganze Zeit geschaltet.«
»Nicht wirklich«, sagte ich. »Soweit ich gesehen habe, pflegen sie zu kommen und zu gehen.«
»Hast du irgendwelche Anzeigen gesehen, bevor Lauren verschwunden ist?«
»Nein, aber sie könnte sie woanders gesehen haben.« Es klang schwach, und wir wussten es beide. Er war so freundlich, meine Spekulation nicht rundheraus abzutun, aber sein Schweigen sprach Bände.
»Ich weiß«, sagte ich. »Zwei junge Frauen, ein Jahr dazwischen, keine auffällige Verbindung. Aber vielleicht gab es andere zwischen ihnen.«
»Blondinen, die auf der Westside verschwinden? Davon wüsste ich. Zu diesem Zeitpunkt lasse ich keine Anregung unberücksichtigt, aber ich habe genug zu tun: Ich muss mir Laurens Telefonunterlagen besorgen, rausfinden, ob sie einen Computer hatte, feststellen lassen, ob jemand gesehen hat, wie sie zu jemandem ins Auto stieg. Vielleicht auch irgendwelche Kommilitonen auftreiben. Es muss noch jemand außer Salander und ihrer Mom geben, der sie gekannt hat. Falls das alles nichts Brauchbares ergibt, werde ich mir Shawna genauer ansehen.« Er gab mir das Lehrbuch zurück. »›Dr. D.‹ Bist du sicher, dass du das bist?«
»Theoretisch könnte es einer ihrer Professoren sein - Gene Dalby oder ein anderer namens de Maartens. Keiner von ihnen erinnert sich an sie. Überfüllte Seminare.«
»Nun ja«, sagte er, »ich kann sie schlecht deswegen vernehmen - wahrscheinlich hat es gar nichts zu bedeuten. Der entscheidende Faktor ist immer noch das Geld. Ihr Job und die Art, wie sie gefesselt und in den Kopf geschossen wurde, sagt mir, dass es sich um eine geschäftliche Angelegenheit handelte. Das ist der Grund, warum ich nicht auf den Yeager-Fall anspringe - Leo Riley hat ihn für ein Sexualverbrechen gehalten. Wenn Lauren fünfzig pro Jahr eingezahlt hat, wer
Weitere Kostenlose Bücher