Fleisch und Blut
kurz nach ihrem Verschwinden bereits tot.«
»Warum sagen Sie das?«
»Es ist nur so ein Gefühl. Wenn sie noch am Leben wäre, warum hätte sie dann nicht in der Zwischenzeit auftauchen sollen?«
»Könnten wir darüber nicht persönlich miteinander reden?«, fragte ich. »Zum Frühstück, zum Mittagessen, egal was.«
»Das LAPD bezahlt?«
»Ich bezahle.«
»Cool«, sagte er. »Klar, mein Bildschirm ist ohnehin leer, ich kann mich einfach nicht zu einem Versuch mit ›Ginkoba-Ingwer-Gaumentropfen‹ aufraffen. Was meint denn die Uhr - zehn. Sagen wir zum Brunch, um elf. Ich sitze drüben in Baja Beverly Hills - Edris Ecke Pico Boulevard, im Osten von Century City. Es gibt ein Noah's Bagel gleich im selben Blocknee, das ist zu uninteressant. Wie war's mit dem koscheren Deli auf dem Pico nicht weit von der Robertson?«
»Klar, ich kenne das Lokal.«
»Oder vielleicht sollte ich noch was Kostspieligeres vorschlagen.«
»Das Deli ist prima.«
»Okay, okay«, sagte er. »Vielleicht kann ich mir noch ein Sandwich zum Mitnehmen bestellen.«
Ich traf zehn Minuten zu früh ein, belegte eine Nische im hinteren Teil und knabberte an den Mixed Pickles, während ich wartete. Das Deli war sauber und ruhig. Zwei ältere Paare saßen über ihre Suppenteller gebeugt da, eine junge orthodoxe Jüdin mit Perücke trieb ihre fünf Kinder zusammen, von denen keins älter als sechs Jahre war, und ein mexikanischer Gewichtheber in Radlerhosen und einem ärmellosen Sweatshirt hielt sich mit gehackter Leber, einem Kanten Roggenbrot und einem Krug Eistee fit.
Adam Green erschien um fünf nach elf. Er war ein hoch gewachsener, magerer, dunkelhaariger junger Mann, der einen schwarzen Pullover mit V-Ausschnitt über einem weißen T-Shirt und eine gerade geschnittene Bluejeans trug, die an seiner ektomorphen Gestalt einen ausgebeulten Eindruck machte. Freizeitschuhe Größe dreizehn, schlaksige Glieder und ein Gesicht, das mit ein bisschen mehr Kinn so hübsch wie das eines Teenager-Idols gewesen wäre. Seine Haare waren kurz, und seine Koteletten zweieinhalb Zentimeter länger als Milos. Ein winziger Goldring zierte seine linke Augenbraue. Er entdeckte mich sofort, ließ sich auf die Bank plumpsen und schnappte sich ein Gürkchen.
»Mordsmäßiger Verkehr. Diese Stadt schafft einen.« Er biss zu, kaute und grinste.
»In L. A. geboren?«, fragte ich.
»In der dritten Generation. Mein Großvater erinnert sich an Pferde in Boyle Heights und Rebstöcke an der Robertson.« Er schluckte das Gürkchen runter, hob einen Senftopf hoch und rollte ihn zwischen den Handflächen. »Okay, jetzt, wo wir alte Bekannte sind, können wir ja zur Sache kommen. Was ist in Sachen Shawna wirklich passiert?«
»Nur das, was ich Ihnen erzählt habe.«
»Ja, ja, ich weiß. Eine andere Ermittlung. Aber warum? Weil noch eine junge Frau spurlos verschwunden ist?«
»Etwas in der Art«, sagte ich.
»Etwas in der Art ... Ich hab immer gedacht, Shawnas Geschichte würde ein gutes Buch abgeben. Tod einer Schönheitskönigin - etwas in der Art. Man brauchte allerdings ein Ende.«
Eine Kellnerin kam zu uns. Ich bestellte einen Hamburger und eine Cola, und Green bat um ein Dreifachdecker-Sandwich mit Pastrami, Truthahn und Corned Beef Deluxe. Außerdem orderte er eine Extraportion Mayonnaise und ein großes Root Beer.
»Und zum Mitnehmen?«, fragte ich.
Er zeigte eine Menge Zähne und ließ sich gegen die Rückenlehne fallen. »Bilden Sie sich nicht ein, dass Sie auf der sicheren Seite sind.«
Als wir wieder allein waren, machte er den Eindruck, als wolle er noch eine Frage stellen, aber ich kam ihm zuvor. »Sie glauben also, Shawna sei kurz nachdem sie vermisst wurde bereits tot gewesen?«
»Zunächst habe ich eigentlich geglaubt, sie wäre mit einem Typ weggefahren oder so was. Sie wissen doch - eine Affäre. Als sie dann aber nicht wieder auftauchte, glaubte ich, sie wäre tot. Habe ich Recht?«
»Warum eine Affäre?«
»Weil die Leute so was tun. Hab ich Recht damit, dass sie wahrscheinlich tot ist?«
»Könnte sein«, erwiderte ich. »Haben Sie irgendwas über Shawna erfahren, das Sie in Ihren Artikeln nicht erwähnt haben?«
Er antwortete nicht, widmete sich noch mal dem Senftopf.
»Was?«, sagte ich.
Er stieß Luft aus. »Es verhält sich so. Ihre Mom war eine nette Frau. Einfach - sie kam vom Land. Ich glaube, sie ist mehrere Jahre nicht in L. A. gewesen - sie hat immer wieder davon angefangen, wie laut die Stadt wäre. Nun war sie also
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