Fleisch
ihn nur verschwommen sehen ließen, noch weiter zu heben.
Dann spürte er es: eine warme Flüssigkeit, die in seine Venen floss. Aber es war angenehm und wohltuend. Was auch immer es war, das der Schatten in die Schläuche injiziert hatte, es hatte begonnen, in sein Inneres einzudringen. Er hörte, wie es in sein Gehirn sickerte, und er stellte sich vor, wie es durch seine Arterien raste und kaltes Blut durch wohltuende warme Flüssigkeit ersetzte, die seine Gedanken wieder verschwimmen ließ und verhinderte, dass sein Herz explodierte.
Seine Augenlider flatterten, als er in die Falten der Bettdecke versank.
Ein weiterer Schatten stand über ihm. Er beugte sich zu ihm herab und verströmte einen Geruch nach Kiefernnadeln und Flussschlamm, gemischt mit Schweiß und Vanille. Dawson spürte heißen Atem an seinem Ohr, als der Schatten flüsterte: „Du wirst dir noch wünschen, du hättest es nicht überlebt.“
16. KAPITEL
„Der Sheriff meint es nur gut“, sagte Lucy Coy, als sie Maggie ein Tablett reichte.
Der Anblick und der Geruch hinderten sie einen Moment an der Antwort: dampfende, selbst gemachte Nudelsuppe, ein halbes, mit Delikatessen belegtes Sandwich auf einem Teller, der mit frischen Erdbeeren und Heidelbeeren verziert war, und daneben ein Becher Gewürztee. Maggie musste sich zurückhalten, um zu warten, bis ihre Gastgeberin sich gesetzt hatte.
„Er wird dafür sorgen, dass man sich ordentlich um diese Jugendlichen kümmert“, fuhr Lucy fort. „Auch um die toten.“
Sie saßen auf der verglasten Veranda im ersten Stock von Lucys modernem Haus. Sein Dach reichte zu beiden Seiten fast bis auf den Boden, und es sah aus, als wäre es direkt einem Architekturmagazin entsprungen. Vom Balkon aus sah man auf die Baumwipfel und Lucys Garten. Viel vom Garten konnte Maggie allerdings nicht sehen, außer wenn sich die Wolken vor dem Mond verzogen und sein Licht ein oder zwei Sekunden lang sanft ansteigende Hügel anstrahlte, die vereinzelt mit Kiefern bewachsen waren; Hügel, die meilenweit weder von Zäunen noch von einem anderen Haus unterbrochen wurden.
Der Regen hatte sich in Nebel verwandelt, und ab und zu wurde er von einer Brise zu ihnen hereingetrieben. Aber Lucy hatte den elektrischen Kamin in der Ecke eingeschaltet, und so wurde es bald gemütlich. Hinter der Glasschiebetür befand sich das ausgebaute Dachgeschoss mit einem großen Bett, das auf Maggie wartete, aber sie war über den toten Punkt hinaus, und als Lucy ihr einen Happen angeboten hatte, hatte sie nicht gezögert. Sie hatte seit dem Vormittag nichts gegessen, nur eine Banane und eine Cola light auf dem Flug von Washington nach Denver. Sie hatte die zwei Stunden Zeitunterschied ganz vergessen. Ihr Kopf und ihr Bauch waren immer noch auf Ostküsten- und nicht auf Rocky-Mountains-Zeit eingestellt. Kein Wunder, dass es sich anfühlte, als wäre es schon Tage her.
Aber Maggie wusste auch, dass sie trotz ihrer Erschöpfung nicht würde einschlafen können. Seit Monaten schon beutelte sie ein schwerer Anfall von Schlaflosigkeit. Als FBI-Agentin hatte sie es gelernt, in ihrem Innern Abteilungen anzulegen, wo sie sorgsam all die schrecklichen Bilder, die sie gesehen hatte, ablegte, all die brutalen Erlebnisse, die sie überstanden hatte. Doch seit einiger Zeit bekamen diese Abteilungen Risse, und für gewöhnlich geschah das nach Einbruch der Nacht. Albträume wiederholten sich vor ihrem inneren Auge, führten sie zu jenen Bildern und Erlebnissen zurück, manchmal in Standbildern, manchmal in Hochauflösung. Sie hatte noch kein Gegenmittel gefunden, keinen Stecker, keinen Schalter. Nichts funktionierte. Weder warme Milch noch Alkohol, weder Sport noch Ausruhen. Das Einzige, was jemals gewirkt hatte – aber nur ein Mal, seitdem hatte sie es nie wieder probiert –, waren Benjamin Platts starke, wohltuende Finger, die ihren Schultern und ihrem Rücken mit einer therapeutischen Massage die Anspannung nahmen. Obwohl es nur eine Massage gewesen war und nichts weiter, errötete sie schon bei dem Gedanken daran.
Zwei von Lucys Hunden, ein großer Retriever-Mischling und ein dreibeiniger Boxer, kamen heran und legten sich zu den Füßen ihres Frauchens. Zuvor hatte ein ganzes Rudel den Jeep begrüßt und die lange Zufahrt bis zum Haus begleitet. Es gab Hunde in jeder Form, Größe und Farbe. Lucy hatte erklärt, dass die Leute die Hunde, die sie loswerden wollten, am Rande ihres Grundstücks absetzten, da sie wussten, dass sie sich ihrer
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