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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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alles, wofür er stand, und statt dessen kam mir diese alte Lady. »Äh«, stammelte ich, um meine Stimme kämpfend, die endlich etwas tiefer wurde als das Teenager-Quietschen, mit dem ich hatte leben müssen, seit ich denken konnte, »wohnt hier vielleicht zufällig, äh, Jack Kerouac?«
    »Geh zurück, wo du hergekommen bist«, sagte die alte Lady. »Mein Jacky hat keine Zeit für diesen Blödsinn.« Und das war’s: sie knallte einfach die Tür zu.
    Mein Jacky!
    Da wurde es mir klar: das war niemand anders als Jacks Mom gewesen, die wahnsinnswilde Madonna mit dem Bop in der Muttermilch, die Frau, die den Guru aufgezogen und geformt hatte, unser aller Urmutter. Und die hatte mich gerade zum Teufel geschickt. Ich war fünftausend Kilometer weit hergekommen, ihr Jacky war mein Jack, ich war bis auf die Knochen durchgefroren, total pleite, verängstigt, verzweifelt und nur eine knappe Lunge voll O 2 davon entfernt, mich in den Matsch zu werfen und loszuschluchzen, bis jemand herauskäme und mich erschoß. Ich klopfte noch einmal.
    »He, Ma!« hörte ich von tief im Innern des Hauses, und es klang wie der Brunftschrei eines gefährlichen Raubtiers, ein dumpfes, zorniges Bop-Speed-Rotwein-Gebrüll, die Stimme des Mannes selbst, »was soll denn das, ich versuch mich hier zu konzentrieren.«
    Dann wieder die alte Lady: »Nichts, Jacky.«
    Klopf-klopf. Kloppata-kloppata, klopf-klopf-klopf. Ich schlug Trommelwirbel auf die Tür, klopfte und pochte, hämmerte auf sie ein, als wäre es die kahle Schädelplatte meines verklemmten, bleistiftspitzenden Sesselpupers von Spießervater oder meinetwegen die von Mr. Detwinder, dem Direktor der Oxnard-High-School. Ich klopfte, bis mir die Knöchel bluteten, ein äußerst virtuoses Klopfen, und ich war so drin im Rhythmus und der Energie davon, daß es eine Weile dauerte, bis ich merkte, daß die Tür sich geöffnet hatte und Jack persönlich vor mir stand. Er sah aus, wie Belmondo in Außer Atem auszusehen versucht hatte, lässig und cool in einem zerknitterten T-Shirt und Jeans, in der einen Hand was zu rauchen, in der anderen eine Flasche Muskateller.
    Ich hörte auf zu klopfen. Mein Mund stand offen, der Rotz gefror mir in den Nasenlöchern. »Jack Kerouac«, sagte ich.
    Er grinste den einen Mundwinkel hinunter und den anderen wieder hinauf. »Kein anderer«, sagte er.
    Der Wind fuhr mir in den Kragen, in dem Zimmer hinter ihm nahm ich bunte Blinklämpchen wahr, und auf einmal sprudelte es aus mir hervor, als hätte ich mein Leben daran geknabbert und gekaut: »Ich bin den weiten Weg von Oxnard hergetrampt, ich heiße Wallace Pinto, aber du kannst ruhig Buzz zu mir sagen, und ich wollte nur sagen – ich wollte dir nur sagen...«
    »Yeah, ich weiß«, sagte er, winkte mit einer fahrigen Geste ab. Er wirkte wacklig, vom Muskateller etwas beeinträchtigt, der sich kräuselnde Rauch von seiner Kippe stach ihm in die zusammengekniffenen blauen Augen, die Worte kamen ihm langsam über die Lippen, schwer und getragen von der tiefen, ewigen Weisheit des Poeten, jenem Wissen von Landstraße, Seefahrerkneipe und Freudenhaus. »Aber ich sag dir, Junge, trommel nur weiter so auf dieser Tür rum, und du endest im Krankenhaus« – Pause – »oder in einer Jazzcombo.« Ich war wie in Trance, bis ich seine Hand – die abgefahrene, mit mexikanischen Bräuten vertraute Hand des Gammler-ZenEngel-Kif-Unterwegs-Bop-Meisters – an meiner Schulter spürte, sie zog mich herein, über die Schwelle und ins Haus. »Schon mal die Bekanntschaft von zwei echten, wahrhaftig straff gespannten Bongos gemacht?« fragte er und warf einen Arm um meine Schultern, während die Tür hinter uns zuknallte.
    Zwei Stunden später saßen wir im Wohnzimmer, vor einem total abgefahrenen Weihnachtsbaum, der voller Cherubim und kleiner Christusse und so Zeug hing, führten uns gewaltige Sandwiches und ein oder zwei Joints zu Gemüte, meine Charlie-Parker-Platte rauschte und kratzte auf dem Plattenspieler, und zu unseren Füßen lag ein ständig anwachsender Berg aus rotem und grünem Millimeterpapier. Wir machten eine Girlande, um sie über den beatesten Baum zu drapieren, den man je gesehen hatte, und die Musik war eine coole Brise, durchweht von einem Hauch Yardbird, und der Duft nach Manna und Ambrosia drang aus der Küche herein, wo Mémère, die leibhaftige Beat-Madonna persönlich, uns ein erstklassiges, speicheltreibendes Zwei-Tage-vor-Weihnachten-Essen à la canadienne kochte. Ich hatte seit dem Vortag in New Jersey

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