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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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die Stummel seiner Zähne. Er ließ sich Zeit, trank und wischte sich den Mund mit dem Hemdsärmel ab. »Scheiße, Mann, klar bin ich der«, sagte er dann, und dabei lachte der andere wieder auf, »und er hier, Ihr Freund mit der Flasche, das ist der Weihnachtsmann.«
    Roger war auf einer wilden Sauftour. Seit einer Woche, seit sieben Tagen oder mehr zog er durch die Kneipen. So viel Geld auf einmal hatte er nicht mehr gehabt, seit er aus New Jersey weg war, seit er als Kind in dem schiefen Wohnanhänger mit seiner Mutter gelebt und in einem Supermarkt Regale eingeräumt hatte. Die Sache mit dem alten Mann war irgendwie unwirklich gewesen, die Sorte Glücksfall, von der alle träumen, die aber nie passiert, niemals. Sicher, Zombies wie Rohlich mochten rumerzählen, sie wären mal beim Trampen von Madonna mitgenommen worden oder ein reicher Saftsack in Atlantic City hätte ihnen einen Hunderter hingeworfen, wo sie doch bloß um einen Vierteldollar gebettelt hatten, aber das hier war unglaublich, es war wirklich passiert. Die fünf Zwanziger allein hätten ihn einen ganzen Monat oder länger über Wasser gehalten, aber natürlich waren sie weg, in das Loch gerutscht, in dem alles früher oder später verschwand – meistens früher. Er wußte nicht, wo er gewesen war und was er getan hatte, aber ihm tat alles weh, also mußte es wohl Spaß gemacht haben, und jetzt brauchte er einen Drink, so sehr, daß er ihn schmeckte. Oder nicht schmeckte. Oder was auch immer.
    Scheiße, es war kalt. Viel zu kalt für die Jahreszeit. Und es nieselte. Als er vor einer Stunde aufgewacht war, hatte er sich auf einem nassen Streifen Pappkarton wiedergefunden, hinter dem Cicero – diesem Fischrestaurant, wo die Yuppies herumhingen –, ohne zu wissen, wie er da hingekommen war oder was er am Abend zuvor getan hatte, und seine Taschen waren leer. Kein Kleingeld. Gar nichts. Er war zur Missionsstation gewandert und hatte sich mit diesem Schwarzen, den alle Hoops nannten, eine Pulle geteilt, und jetzt war er bis auf die Haut durchnäßt, zitterte am ganzen Leib und suchte nach einem Wohltäter für eine Investition in die Firma Gallo-Portwein, damit ihm dort warm wurde, wo es am wichtigsten war. Da fiel ihm die Uhr des alten Knaben ein, die schwarze Movado, und er durchsuchte seine Taschen danach. Sie war weg. Er erinnerte sich sehr undeutlich daran, daß er das Ding versetzt und zehn Mäuse dafür gekriegt hatte, worauf er mächtig sauer geworden war, aber ganz sicher war er sich nicht – es konnte auch eine andere Uhr und ein anderes Mal gewesen sein.
    Er blieb ein paar Stunden lang auf der Straße, es wurde sogar noch kälter, doch er brachte nicht mehr als zweiundneunzig Cents zusammen. Inzwischen wurde er fast wahnsinnig vor Durst, deswegen kaufte er sich eine Dose Bier und ging zur Lagerhalle, um nachzusehen, wer dort gerade herumhing, und um vielleicht ein paar Schluck Wein zu schnorren. Er sah, daß irgendwer versucht hatte, das umgebogene Türblech geradezuhämmern, und daß eine ganze Ladung von den Scheißzeitungen abtransportiert und dafür eine neue Ladung hereingebracht worden war, aber abgesehen davon hatte sich nichts verändert. Es war niemand da, und er baute sich ein kleines Iglu aus gebündelten Zeitungen, trank das Bier in zwei langen Zügen und versuchte, für ein paar Minuten mit dem Zittern aufzuhören.
    Zuerst hörte er es nicht – oder er registrierte es nicht. Die Halle war ein riesiges Gewölbe, unter der hohen Decke hätte ein Flugzeug Platz gefunden, und die Seitenwände zogen sich den ganzen Häuserblock entlang, außerdem war es laut, jetzt tagsüber, zum Eingangstor an der South Street rumpelten Lastwagen voller Blechdosen und Flaschen rein und raus, und Herr und Frau Bravbürger fuhren mit ihren Sprößlingen vor, um ordentlich gestapelte und verschnürte Zeitungsbündel abzuladen. Ein Mordskrach, er hörte nichts als den gedämpften Lärm all dieser Aktivitäten, und er wünschte, es wäre fünf und sie würden den Laden dichtmachen, nach Hause gehen und ihn in Ruhe lassen, aber nach einer Weile wurde ihm bewußt, daß noch jemand anders da war: gleich im nächsten Gang brabbelte jemand vor sich hin, im leisen Singsang der Geisteskranken und Hoffnungslosen. Ein anderer Penner. Vielleicht einer, den er kannte. Der ein Fläschchen dabeihatte und womöglich einen Happen zu essen, den er aus der Tonne hinterm Supermarkt gefischt hatte. Rogers Laune besserte sich sofort.
    Er stand mühsam auf, hielt nach dem

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