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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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einem tiefen Aufwallen von überwältigender beatuntypischer Trauer klar, daß auch meine eigenen Spießbürger-Eltern draußen in Oxnard jetzt vor ihrem Fernsehgerät hockten und demselben verzerrten Gummigesicht zusahen und sich vermutlich fragten, was aus ihrem heißgeliebten Sprößling geworden war. Ricky Keen mochten ähnliche Gedanken durch den Kopf gehen, so trist und trübselig sah sie in diesem Moment aus, und ich wollte sie umarmen, ihr übers Haar streichen und die Wärme ihres süßen kleinen Beat-Körpers an meinem spüren. Nur Jack schien es nichts auszumachen. »Bier für alle«, beharrte er, trommelte mit der Faust auf die Theke, und ehe der Barkeeper sich noch von seinem Hocker aufraffen konnte, um dem Wunsch nachzukommen, erweckte Jack in der Musikbox Benny Goodman zum Leben, und wir suchten unser Kleingeld zusammen, während die Fernfahrer stoisch vor ihren frischen, von Jack bezahlten Bieren saßen und die Kellnerin uns aus ihren schwarzen, eingefallenen Augen musterte. Natürlich war Jack pleite, und meine dreiundachtzig Cents brachten uns auch nicht weit, aber zum Glück förderte Ricky Keen aus einem kleinen Portemonnaie in ihrem Stiefel ein paar zerknüllte Dollarscheine zutage, und das Bier floß wie herber Honig.
    Irgendwann während der dritten oder vierten Runde erhob sich der kräftigere der beiden Fernfahrertypen abrupt von seinem Hocker, auf den Lippen die Worte »Kommunist« und »schwule Sau«, um Jack, Ricky und mich mit einem Windmühlenwerk von Schlägen, Fußtritten und Ellenbogenstößen plattzumachen. Wir gingen in einem marihuanageschwächten Geblöke zu Boden, dabei lachten wir wie die Irren und versuchten nicht einmal, uns zu wehren, als auch der andere Fernfahrer, der Barkeeper und sogar die Kellnerin mitmischten. Eine halbe Minute und viele blaue Flecke später kugelten wir drei in einem Gewirr von Gliedmaßen auf die eisige Straße hinaus, und meine Hand wanderte dabei wie zufällig zu Ricky Keens fester kleiner halbgeformter Brust, und zum erstenmal fragte ich mich, was aus mir werden sollte und – konkreter – wo ich die Nacht verbringen würde.
    Aber Jack, dieser heldenhafte, fertige Beat-Typ, murmelte halblaut etwas über Spießer und Philister und kam mir dann zuvor. Er stand torkelnd auf, streckte seine eisenbahnschwielige Hand, die Spontanprosa zu produzieren gewohnt war und jetzt eine Flasche Tokaier hielt, erst Ricky und dann mir entgegen und sagte: »Mitsucher und Sparringspartner, der Weg zur Erleuchtung ist ein steiniger, aber heute, heute werdet ihr bei Jack Kerouac übernachten.«
    Ich erwachte am Nachmittag auf dem Sofa im Wohnzimmer in der Wohnung, die Jack mit seiner Mémère teilte. Das Sofa war ein hartes Terrain, zerfurcht und zerklüftet von tiefen Tälern und hohen, harten, vom Durchzug gepeitschten Gipfeln, doch meine magere, unempfindliche Siebzehnjährigengestalt war dennoch auf eine Weise eins mit ihm geworden, die geradezu der Seligkeit nahekam. Immerhin war es ein Sofa und nicht der schmale Vordersitz eines über die Straßen rumpelnden Sattelschleppers oder Pkws, außerdem umwehte es die zerknitterte Aura von Jacks spätnächtlichem Büchergeblätter, Jointgedrehe, Bongogetrommel, die es empfahl, ja die es weihte. Was tat es da schon, daß mein Kopf größer war als ein Wetterballon und der restliche Körper sich anfühlte wie ein Klumpen Hackfleisch? Was tat es, daß mir vom billigen Wein, vom Gras und Benzedrin so übel war, daß mir die Zunge wie ein Klettverschluß am Gaumen klebte und daß Ricky Keen, statt mit mir das Sofa zu teilen, auf dem Boden schnarchte? Was tat es, daß aus dem Küchenradio spießige Weihnachtslieder von Bing Crosby und Mario Lanza schmetterten und daß Jacks massige, gewaltige Seele von Mutter alle fünf Sekunden ihren breitschultrigen Leib ins Zimmer schob, um mir einen Blick von sprühendem Haß und mütterlicher Ungeduld zuzuwerfen? Was tat es? Ich war bei Jack. Eingetroffen im Nirwana.
    Als ich endlich die merkwürdige, verfilzte, nach Waschpulver riechende, total fertige Canuck-Häkeldecke zurückschlug, die irgendeine gute Seele – Jack? – im Zwielicht der frühen Morgenstunden über mich gebreitet hatte, bemerkte ich, daß Ricky und ich nicht allein im Zimmer waren. In dem Lehnsessel direkt vor mir saß reglos wie ein Totempfahl ein Fremder, ein hagerer, drahtiger, langnasiger, irgendwie brahmanisch aussehender Typ mit starrem Hundertmeilenblick und einem stumpfbraunen Beat-Anzug, der ohne weiteres

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