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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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beschmeißen.«
    »Aber –« Ich wollte fragen, wie das möglich wäre, da wir doch gar nicht wüßten, wer es getan hatte, doch dann ahnte ich die Richtung, in die sein Vorschlag ging, und in meiner Verwunderung stieß ich hervor: »Aber wieso?«
    Er zuckte die Achseln, zog den Kopf ein, scharrte mit einem Fuß auf dem Teppich. Wir standen im Flur neben dem Telefontisch. Ich hörte meine Mutter im Nebenzimmer, obwohl die Tür geschlossen war und sie im Flüsterton sprach. Caspers Mutter antwortete ihr in gerauntem Einverständnis. Casper starrte die geschlossene Tür an, wie um zu sagen: Da, da hast du die Antwort.
    Nach kurzer Pause fragte er: »Was ist denn los – hast du Schiß?«
    Ich war zwölf Jahre alt, zwölfeinhalb. Wie kann irgend jemand in diesem Alter Angst eingestehen? »Nein«, sagte ich, »ich hab keinen Schiß.«
    Die Duryeas wohnten ein Stück außerhalb der Siedlung in einem gemieteten zweistöckigen Einfamilienhaus mit Doppelgarage, das ein paar neue Schindeln und einen Anstrich bitter nötig hatte und am Ende einer steilen Schotterstraße mit tiefen Spurrinnen stand, knapp einen Kilometer von uns entfernt. Die Straße wurde nicht von Lampen erhellt, war aber mit großen Bäumen bestanden, so daß auch die dunkelsten Schatten darunter noch dunkler wurden. Es war eine warme, glitzernd feuchte Nacht Ende Mai, eine dieser Nächte, die einen mit ihrer üppigen Intensität überraschen, in denen alle Gerüche kräftiger, alle Geräusche gedämpft und die Lichter leicht verschwommen sind. Es nieselte, als wir von Caspers Haus aufbrachen.
    Casper kaufte die Eier, zwei Dutzend, in dem kleinen Laden am Highway. Seine Eltern waren reich – verglichen mit meinen jedenfalls –, und irgendwie hatte er immer Geld. Der Ladenbesitzer war eine tragische Erscheinung: ein Mann mit geschwollenen lila Tränensäcken unter den Augen und einem gewaltigen Bauch, der unter seiner fleckigen weißen Schürze wie eine Lawine aussah. Casper steckte sich rasch zwei Zigarren ein, während ich den Mann mit einer Frage über den Kakao ablenkte – gab es den auch in kleineren Portionen?
    Während wir die Schotterstraße entlanggingen, in der Hand die Eier, war Casper merkwürdig still. Als uns von der Einfahrt eines dunklen Hauses ein Hund anbellte, ergriff er meinen Arm, und im nächsten Augenblick, als ein Auto in die Straße einbog, zog er mich in die Büsche und kauerte sich schwer atmend nieder, bis die Scheinwerfer nicht mehr zu sehen waren. »Maki Duryea«, leierte er flüsternd herunter, wie er es schon hundertmal getan hatte, »Maki Duryea, Maki Duryea.« Mein Herz hämmerte. Ich wollte es nicht tun. Ich wußte nicht, warum ich es tat, begriff noch nicht, daß der Zweck der Übung nur darin bestand, die Werte unserer Eltern ins Gegenteil zu verkehren, sie zu besudeln und in den Schmutz zu ziehen, und daß angesichts dieses uralten Imperativs alle ethischen Erwägungen null und nichtig wurden. Ich war ein Freiheitskämpfer. Die Eier waren Handgranaten. Ich barg sie an meiner Brust.
    Wir versteckten uns in dem wild wuchernden Gestrüpp vor dem Haus und beobachteten das Geschehen hinter den stillen, matterleuchteten Fenstern. Mein Haar war von Nieselregen angeklatscht. Casper kauerte auf den Fersen und befingerte seinen Eierkarton. Ich konnte ihn kaum erkennen. Einmal ging eine Gestalt hinter dem Fenster vorbei – ich sah das Haar, den glatten, schimmernden Glanz –, und es hätte Maki sein können, aber ich war mir nicht sicher. Vielleicht war es auch ihre Mutter. Oder ihre Schwester, Tante, Großmutter – irgend jemand eben. Endlich, als mich das Herumhocken in den Büschen bereits so anödete, wie mich noch nie etwas angeödet hatte, nicht mal ein Zahnarztbesuch, gingen die Lichter aus. Oder nein, sie gingen nicht einfach aus – sie explodierten zu Dunkelheit, und der schwarze Sturzbach der Nacht raste heran und erfaßte das Haus.
    Casper stand auf. Ich hörte, wie er seinen Eierkarton aufklappte. Wir sprachen nichts – Worte wären überflüssig gewesen. Auch ich stand auf. Die Eier paßten rund und glatt in meine Handfläche, als wären sie dafür geformt. Ich hob den Arm – Baseball, Football, Basketball –, und Casper regte sich neben mir. Die vertraute Wurfbewegung, das Zischen der Luft: nie werde ich das Aufklatschen jenes ersten Eis vergessen, das gegen die Vorderfront des Hauses flog, diese samtene Feuchtigkeit, wie die Geburt von etwas. Keine Waffe und dennoch eine Waffe.
    Der Sommer war heiß,

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