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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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medizinischen Metiers.«
    Er winkte ab. Unwichtig. »Ach, das«, sagte er und schob sich die Brille zurecht. »Das ist eigentlich nicht geheim, nicht mehr jedenfalls. Das erzählen die Mediziner seit jeher ihren Frauen, Kindern und Schwägern – oder sagt man Schwagern? Na, jedenfalls lautet es: ›Viel schlafen und viel Flüssigkeit zu sich nehmen.‹«
    Diesmal erstarb mein Lachen, abgehackt wie von einer fallenden Guillotine. »Und mein Rücken?«
    »Viel schlafen«, sagte er, »und viel Flüssigkeit zu dir nehmen.«
    Der Schmerz war noch da, etwas abgestumpft, weil der Hund seinen Biß lockerte, dennoch war er da. »Können wir nicht mal einen Moment lang ernst werden?«
    Aber das ließ er nicht zu. Er wurde nie ernsthaft. Dann hätte er ja zugeben müssen, daß die halbe Welt verkrüppelt und arthritisch war und an Dysplasien und Osteoporose litt; er hätte eingestehen müssen, daß es Zwerge und Mißbildungen und Drüsenfehlfunktionen gab, ganz zu schweigen von den Legionen säbelbeiniger Kinder, die auf der Straße verhungerten, während wir uns unterhielten. Wäre er einmal ernst, müßte er seine abgrundtiefe Unfähigkeit angesichts all der Verwesung und Verwirrung bekennen, von der die Welt beherrscht war. Er erhob sich vom Schreibtisch, ergriff meinen Ellenbogen und schob mich mit schwägerlichem Druck hinaus.
    Ich stand an der offenen Tür, hinter mir das Wartezimmer. Staunend wurde mir klar, daß er nichts zu unternehmen gedachte. Nicht das geringste. »Aber, aber«, stammelte ich, »willst du mir nicht wenigstens ein paar Tabletten verschreiben?«
    Er bewahrte sein makelloses Lächeln – nicht das leiseste Beben seiner bärtigen Oberlippe –, und dafür mußte ich ihn lieben: sein Rücken tat ihm nicht weh, seine Knie waren gesund. »Peter«, sagte er mit spielerisch tadelndem Ton, »es gibt kein Wundermittel – das solltest du doch wissen.«
    Ich wußte gar nichts. Ich wollte Kodein, Morphium, Heroin; ich wollte, daß die Schmerzen aufhörten. »Arzt, hilf dir selber!« zischte ich höhnisch. Und wirbelte dann auf den Fersen herum, rundum zufrieden mit meiner Schlagfertigkeit, rannte aber um ein Haar eine winzige verhutzelte Dame um, die spinnenartig in einem schimmernden Netz aus Aluminiumstreben, Reifen und Zahnrädern pendelte.
    »Bist du noch mit Adriana zusammen?« rief er mir nach, als ich zur Haustür entwich. Mein Mantel – ein bohrender Schmerz; der Schal – ein Zittern im Unterarm. Dann die Handschuhe, die Tür, der Wind, die nackte Lüge des Frühlings. »Ich hab mir nämlich gedacht«, erläuterte der Mann der Heilkunst, »daß wir bei uns ein paar Doppel spielen könnten« – donnerndes Knallen der Tür, die Stimme klang nur noch gedämpft dank der Entfernung und der zwischen uns befindlichen Platte aus massivem Eichenholz –, »wie wär’s am Samstag?«
    Zu Hause ließ ich mich in meinen Sessel mit dem Heizkissen sinken und drückte den Wiedergabeknopf meines Anrufbeantworters. Adrianas Stimme bestürmte mich, atemlos, angespannt, durchdrungen von existentieller Angst und der niederschwelligen Frequenz ihrer Alltagssorgen. »Die Frösche verschwinden. Überall auf der Welt. Die Frösche. Glaub mir!« Dann eine Pause. »Man sagt, das ist so ähnlich wie mit den Kanarienvögeln in den Kohlenstollen – die erste Warnung, das erste Anzeichen. Die Apokalypse ist gekommen, sie ist da, wir sind alle verloren. Ruf mich zurück.«
    Mit Adriana war ich seit elf Jahren regelmäßig unterwegs. Wir gingen zusammen einkaufen, ins Kino, in Konzerte, Museen, drei- bis viermal pro Woche zum Abendessen und unterhielten uns stundenlang am Telefon. In unseren frühen Jahren, als wir von Leidenschaft verzehrt wurden, verbrachten wir oft auch die Nacht miteinander, doch jetzt, da unsere Beziehung gereift war, respektierten wir mehr und mehr den Freiraum des anderen. Es war auch übers Heiraten geredet worden, in den frühen Jahren – angeregt allerdings vor allem von Eltern, Verwandten und Freunden, die an Hypotheken und Windelwaschdienste gekettet waren –, aber wir wollten nichts überstürzen, schon gar nicht in dieser Welt, die in die ökologische, finanzielle und mikrobische Katastrophe taumelte. Das Projekt lag vorläufig auf Eis.
    Ich wählte ihre Nummer und kriegte auch nur ihr Tonband. Ich wartete drei Strophen von »Auf nun, ihr christlichen Streiter« ab – ihr Schabernack der Woche –, ehe ich meine Nachricht hinterlassen konnte, die im Prinzip lautete: »Ich hab angerufen, ruf mich

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