Fleischeslust - Erzaehlungen
dreiundzwanzigste?«
»Wiederlesen. Das erste, ursprüngliche Lesen zählt ja nicht als Wiederlesen. So wie der Geburtstag – du lebst ein Jahr, bevor du deinen ersten feierst.«
Ihre Logik war unwiderlegbar. Ich starrte auf die weite graue Fläche des froschlosen Hudson hinaus und wandte mich dann meinem eigenen Buch zu: Der explosive Ruf des Pfeiferfrosches ertönt im seichten Wasser; von irgendwoher kommt das schnurrende Trillern der »Baumkröte«, von wo genau, ist nicht zu orten. Doch horchet wohl! Das Lied dieses Lurches erklingt aus weiter Ferne und ist süßer als alles andere, ausgenommen vielleicht den Zweiton-Frühlingsruf der Blaumeise. Nie hätten wir geglaubt, daß eine Kröte solche Laute hervorbringt, hätten wir es nicht an jenem ersten Tag im Mai selbst gesehen und gehört. Ich las vom Liebesleben der Kröten, bis wir an der 97. Straße in die Dunkelheit des Tunnels eintauchten, dann gönnte ich meinen Augen Ruhe. Früher hätten Adriana und ich die ganze Zeit lang geistreiche Bemerkungen ausgetauscht und ätzende Porträts unserer Mitreisenden erstellt, aber jetzt mußten wir nicht reden, nicht unbedingt. Wir waren über das Reden hinaus.
Es hätte einer dieser goldenen, ätherischen Frühlingsmorgen sein können, erfüllt von der Wärme und dem Drängen der Jahreszeit, von schwirrenden Bienen, sich öffnenden Knospen und herrlicher, lauer Luft, aber es war keiner. Wir fuhren im Taxi durch peitschenden Winterregen und gingen bibbernd die Treppe hinauf in den zweiten Stock und in einen zugigen Vortragssaal, wo ein Mann mit Halbglatze und Rollkragenpullover über die Häutungsgewohnheiten der Sumatra-Riesenkröte dozierte. Ich war gut gelaunt – Frösche und Kröten: damit konnte ich sie einen ganzen Monat lang aufziehen, vielleicht sogar zwei – und stupste Adriana im Lauf der nächsten zwei sterbensöden Stunden immer wieder in die Rippen. Wir hörten eine Abhandlung über Anatomie und Ernährung von Discoglossus nigriventer , des schwarzbäuchigen Scheibenzünglers aus Israel, und eine weitere über die chemische Zusammensetzung des vom costaricanischen Pfeilgiftfrosch sezernierten Toxins, aber nichts über die Aussichten dieser Wesen, das nächste Jahrzehnt zu überdauern. Adriana zog sich ihre grüne Baskenmütze über die Augen. Ich ertappte sie dabei, wie sie ein Gähnen unterdrückte. Nach einer Weile wurden auch mir die Lider schwer.
Es folgte trockener, knapper Applaus, als der Pfeilgift-Experte vom Podium ging, was mich aus einem Morast von trüben Träumen riß. Ich erhob mich und klatschte matt. Gerade beugte ich mich zu Adriana hinüber, auf den Lippen die Worte Dim sum , ein Begriff, der sie unweigerlich in Aktion bringen mußte – immerhin war es nach eins, und wir hatten noch nichts gegessen –, als ein wilder Typ mit blonden Dreadlocks und einer getönten Brille das Mikrophon packte. »Hallo allerseits«, grüßte er. Die heisere, tonlose Stimme knisterte in den Lautsprechern, und ein seltsames Lächeln huschte über seine Lippen. Unter dem zerknitterten Regenmantel trug er ein T-Shirt, auf dem eine gigantische Kröte gerade ein Insekt vertilgte. Im Programm war er als B. Reid von der Universität Berkeley aufgeführt. Eine lange Weile stand er einfach nur am Pult, verharrte vor dem Mikrophon, fixierte uns mit dem leeren Starren seiner blaugetönten Gläser.
Jemand hüstelte. Im Saal war es so still, daß ich das ferne Rauschen des Regens hören konnte.
»Wir hatten heute die Ehre, einige durchaus provokante und animierende Thesen zu hören«, begann B. Reid, ohne außer den Lippen einen einzigen Muskel zu bewegen. »Es waren Vorträge, die sich auf brillante Weise mit der gewissenhaften Detailforschung auseinandersetzten, die so wichtig für unsere Wissenschaft und unseren Erkenntnisfortschritt ist, und ich möchte den Professoren Abercrombie und Wouzatslav für ihre gute Arbeit auch herzlich danken, doch zugleich frage ich Sie alle: Wird es eine Siebente Internationale Jahreskonferenz über Herpetologie und Batrachiologie geben? Oder eine achte? Wird es diese Forschungsrichtung, wird es Batrachiologen geben? Meine Damen und Herren, wozu hier eine Charade spielen: Wird es noch Frösche geben?«
Gemurmel kam auf. Die Dame neben mir, massig und selbst von eher amphibischem Aussehen, rutschte nervös auf ihrem Sitz hin und her. Meine Lendenwirbelsäule meldete sich mit einem fernen Schmerz, und ich spürte, wie sich mir die Nackenhaare aufstellten: dafür waren wir
Weitere Kostenlose Bücher