Fleischeslust - Erzaehlungen
Zimmer, jenes Zimmer, das er täglich zwanzigmal durchquert wie ein Tourist, der in einem Museum eingesperrt ist, scheint ihn mit einemmal zu erdrücken.
»Weil sie schrecklich verlegen waren, darum – sie hatten nämlich nichts anzuziehen. Und ich meine nicht wie in: ›Ach, Liebling, ich hab überhaupt nichts anzuziehen für den Ball nächste Woche‹, sondern sie hatten buchstäblich keine Kleidung. Nichts, nicht mal einen Fetzen. Sie kamen dann doch zum Interview, wie Adam und Eva, eine Hand vor die Schamregion gepreßt.« Sie fixierte ihn, bis er wegsehen mußte. »Was meinen Sie dazu, Mr. Laxner? Das würde mich doch interessieren.«
Was soll er sagen? Weder hat er den Krieg angezettelt noch den Leuten das Essen aus dem Mund geraubt, noch ihnen die Kleider vom Leib gerissen, und dennoch fühlt er sich schuldig, quillt förmlich auf vor Schuldgefühlen, wird ganz fett davon, aus jeder Pore sickert ihm der ranzig-goldene Saft von Übermaß und Vergeudung. »Das ist schrecklich«, murmelt er und kann ihr dabei noch immer nicht in die Augen sehen.
»Schrecklich?« Ihr Schrei nimmt ihn geradezu aufs Korn. »Verdammt recht haben Sie, daß das schrecklich ist. Grauenhaft. Traurig wie nichts auf der Welt. Und wissen Sie was? Na?« Sie kommt ihm jetzt noch näher, so nahe, daß er sie ohne weiteres beatmen könnte. »Deswegen berechne ich Ihnen tausend Dollar pro Tag.«
Die Zahl packt ihn, wringt ihn regelrecht aus, lähmt seine Stimmbänder. Er spürt, wie etwas heftig an den Sehnen seines Halses zerrt. »Tausend – Dollar – pro Tag?« wiederholt er ungläubig. »Ich wußte ja, daß es nicht billig wird –«
Doch sie schneidet ihm das Wort ab, drückt ihm energisch einen Finger auf die Lippen. »Sie sind besudelt«, raunt sie, und ihre Stimme klingt jetzt anders, erregend und weich wie die einer Geliebten, »Sie sind unrein. Und ich bin die einzige, die Sie wieder saubermachen kann.«
Am nächsten Abend, gleich nach dem Essen, betreten Susan Certaine und ihre Mitarbeiterin Dr. Doris Hauskopf, wie mit Julian besprochen, durch die hintere Gartentür das Grundstück. Es ist eine klare, heiße Nacht, keine Spur von Feuchtigkeit in der Luft – eine Nacht, die Julian zum Sternegucken verlocken würde, wenn das Streulicht der Stadt nur nicht so stark wäre. Nach einer Mahlzeit aus dem armenischen Feinkostladen – Fladenbrot, Tabbouleh aus Bulgur und gefüllte Weinblätter – trinkt er gerade mit Marsha eine Tasse koffeinfreien Kaffee auf der Terrasse, inmitten des undurchdringlichen Durcheinanders von Gartenmöbeln, als der Klang von Susan Certaines scharfer, durchdringender Stimme in das gedämpfte Brausen des Schnellstraßenverkehrs und das sporadische Vogelgezwitscher schneidet: »Mr. Laxner? Sind Sie da?«
Marsha, die auf ihrem Rattansessel thront und im Katalog eines Kuriositätenversands blättert, sieht ihn fragend an. Sie denkt an einen Boten oder eine Sendung des Paketdienstes – Marsha, seine Marsha, in ihren pastellfarbenen Shorts und dem zu großen Oberteil, die Quintessenz der Unschuld, so leicht zufriedenzustellen. Er liebt sie in diesem Augenblick, liebt sie so heftig, daß er die Sache fast abblasen will, aber da ist Susan Certaine, unleugbar, und ihre Stimme erklingt nun erneut, durchbohrend und unnachgiebig: »Mr. Laxner?«
Also erhebt er sich, duckt sich unter schaukelnden Keramikschwänen und schmiedeeisernen Blumentöpfen hindurch – und fühlt sich wie Judas persönlich.
Martialisches Klacken von Absätzen auf dem Plattenweg, das Klatschen zweier Aktentaschen gegen rigoros durchtrainierte Oberschenkel, und da sind sie auch schon, die professionelle Organisatorin und ihre Kollegin, die Psychologin, bauen sich vor der verwirrten Marsha auf wie zwei Zollfahnder. Einen Augenblick herrscht Stille, Marsha blickt zwischen Julian und den beiden Eindringlingen hin und her, ehe ihm klar wird, daß es an ihm ist, die Anwesenden miteinander bekannt zu machen. »Marsha«, setzt er an, wobei er zunächst nur unter Schwierigkeiten seine Stimme findet, »Marsha, das sind Ms. Certaine und ihre Kollegin, Dr. Doris Hauskopf – sie sind Spezialisten für Sammelstörungen. Sie haben einen Service für Leute wie uns... denk doch mal daran, wie wir uns vor ein paar Wochen darüber –«, doch Marshas Blick legt ihm kalte Finger um die Kehle, und er kann nicht weiterreden.
Bis zu den Haarwurzeln erblaßt, springt Marsha vom Stuhl auf und blickt wild um sich. »Nein«, keucht sie, »nein«, und einen Moment
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