Fleischeslust - Erzaehlungen
lang fürchtet Julian, sie werde einfach davonrennen, doch die Psychologin, eine kompakte Frau, deren Frisur noch strenger ist als die von Susan Certaine, tritt vor, um die Situation unter Kontrolle zu bringen. »Arme Marsha«, sagt sie besorgt und öffnet die Arme zu einer weiten Umarmung, »arme, arme Marsha.«
Die Bäume biegen sich unter der Last geschnitzter Vogelhäuschen aus Heidelberg und Zürich; Wind kommt auf und spielt in den taiwanesischen Windharfen, die rings um das Dach die Regenrinnen säumen, und das Haus – das rappelvoll gepackte Haus, in dem es seit zwei Jahren nicht mehr möglich ist, etwas zu kochen oder auch nur eine Pfanne zu finden – scheint sich kurz in den Fundamenten zu heben und wieder zu senken. Plötzlich schluchzt Marsha, klammert sich an Dr. Hauskopfs breite Schultern und schluchzt wie ein Kind. »Ich weiß, daß es falsch ist«, heult sie, »ich weiß es, aber ich kann einfach nicht anders, ich kann nicht...«
»Schon gut, Marsha, ist ja gut«, säuselt Dr. Hauskopf – hier wirft Susan Certaine Julian einen grimmigen, schmallippigen Blick des Triumphes zu –, »deshalb sind wir ja hier. Machen Sie sich keine Sorgen.«
Am nächsten Morgen wird Julian Schlag sieben vom kehligen Brummen schwerer Maschinen aus unruhigen Träumen gerissen. In der ersten Schrecksekunde des Erwachens hält er es für den Lärm der Müllabfuhr und empfindet sofort Gewissensbisse, weil er nicht die Tonne hinausgestellt und damit seine Last wenigstens um den wöchentlichen Bruchteil reduziert hat, aber allmählich wird ihm klar, daß das Geräusch lokalisiert und statisch ist, daß es direkt von der Straße vor seinem Haus kommt. Er wirft die Schichten von Tagesüberwürfen, Quilts und Großmutter-Häkeldecken ab, unter denen er und seine Frau allnächtlich begraben liegen, kämpft sich durch den kostbaren Kehricht auf dem Fußboden zum Schlafzimmerfenster. Draußen sieht er schnittige dunkle Silhouetten: drei Sattelschlepper stehen dort mit fauchenden Motoren – metallicschwarz lackierte Möbelwagen, auf denen das Certaine-Emblem prangt. Und irgendwo, tief in den Eingeweiden seines Hauses, läutet es. Energisch.
Marsha wird die Tür nicht öffnen. Marsha wühlt sich nicht aus dem Morast der Bettwäsche, um sich verdattert zu fragen, wer um diese Zeit klingeln könnte. Sie ist weder im Badezimmer, um zwischen all den Schnurrbartschonern und Seifenschälchen aus dem Wiener Fin de siècle ihre Zahnbürste zu suchen, noch in der Küche bei der schwierigen Entscheidung, welchen der Filterautomaten/Espressomaschinen/Kaffeesieder sie nun nehmen soll. Sie befindet sich gar nicht im Haus, und die Bedeutung dieser Tatsache packt ihn jetzt, sehr schmerzhaft, wie Angst oder Hunger.
Nein, Marsha ist dreiundvierzig Kilometer weit weg im Simi Valley, in Susan Certaines Zentrum für stationäre Behandlung – zum erstenmal in sechzehn Ehejahren von ihm getrennt. Es war Dr. Hauskopfs Idee. Sie hatte gemeint, es sei besser so, weniger traumatisch für alle Beteiligten. Nach der lösenden Umarmung im Zwielicht des Vorabends hatten die Psychologin und Susan Certaine Marsha hinausgeleitet, weg von Julian und dem Haus – ihren »Zwillingskrücken«, wie Dr. Hauskopf es formuliert hatte –, und sie auf dem Rasen einer dreistündigen improvisierten Therapiesitzung unterzogen. Julian tat inzwischen etwas, das er schon lange vorgehabt hatte: er nahm seine Lunarkarten zur Hand und stellte Berechnungen über die Gesamtfläche der Mare Fecunditatis im südöstlichen Mondquadranten an, aber trotzdem mußte er immer wieder aus dem Fenster blicken. Die drei Frauen hatten es sich im Kreis auf dem Rasen bequem gemacht, sie saßen im Schneidersitz wie Yogis, und über ihnen flackerten Marshas polynesische Tiki-Leuchten lichterloh wie ein Waldbrand.
Im zuckenden Licht neigten sie die Oberkörper aufeinander zu, weiße Hände blitzten im Dunkel auf, während ringsherum Marshas Menagerie der Gartenskulpturen wie stille Zeugen in der Nacht Gestalt annahmen. Etwas vage Beklemmendes lag in dieser Szene, und Julian fühlte sich wie ein Eindringling, auf eine zutiefst bedeutsame Art bereits beraubt, und mußte den Blick abwenden. Er legte den Bleistift weg und mixte sich einen Drink. Er schaltete den Fernseher an. Ging auf und ab. Endlich, um Viertel vor zehn, kamen sie ins Haus zurück. Marsha schien sich gefügt zu haben, sie schaute zu Boden, und er sah deutlich, daß sie geweint hatte. Sie bewilligten ihr einen Koffer. Kein
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