Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle

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abrupt auf null geschrumpft ist. »Susan Certaine?«
    »Ich bin der reinigende Strahl, Mr. Laxner, genau das bin ich. Der läuternde Wasserfall, das Taufbecken. Ich werde einen neuen Menschen aus Ihnen machen.«
    Dafür ist sie gekommen, das weiß er nun, und genau das braucht er – Disziplin, Druck, das eiserne Versprechen –, trotzdem weicht er unwillkürlich und unmerklich vor ihr zurück: ein Tänzeln mit den Füßen, das Einziehen einer Schulter. »Ja, aber« – ein Seitenblick auf sie, und sie ist immer noch da, ganz nah, haucht ihm ihr Mundwasser entgegen wie eine Zahnarzthelferin –, »das ist eine gewaltige Aufgabe, das...«
    »Wir erstellen ein Verzeichnis von allem – von allem , bis hin zu den Büroklammern in Ihrem Schreibtisch und den Fusseln in Ihren Taschen. Meine Leute sind ein perfektes Team, echte Profis. In unserer Branche gibt’s nichts Vergleichbares, das können Sie mir glauben – und auch, daß ich die Situation hier binnen einer Woche unter Kontrolle haben werde, nach sieben kurzen Tagen. Das garantiere ich Ihnen sogar. Ich brauche dafür nichts weiter als grünes Licht von Ihnen.«
    Grünes Licht . Plötzlich tut sich eine Perspektive vor ihm auf: jungfräuliche Strände, weite Ebenen, endlose Mondlandschaften und Wüsten wie auf der Venus, die gähnende schwarze Leere des interstellaren Raums. Ist es denn zuviel verlangt, wenn er die Wände seines eigenen Hauses sehen will? Nur ein einziges Mal? Nur eine Stunde lang? Ja, klar, in Ordnung, will er sagen, aber die Dimension des Ganzen beklemmt ihn. »Ich muß erst meine Frau fragen«, hört er sich sagen. »Ich meine, es mit ihr besprechen, darüber nachdenken.«
    »Pah! Das sagen sie alle.« Ihr Blick ist brennend und bitter, die Augen werden hart hinter den Linsen, der lippenlose Mund krümmt sich wie um etwas Verfaultes. »Sagen Sie mir eines, Mr. Laxner, wenn Sie die Frage gestatten – Sie sind Sterngucker, stimmt?«
    »Wie bitte?«
    »Oben das Dachzimmer, das über der Küche?« Ihre Augen hüpfen hin und her, irgendein wahnwitziger elektrischer Impuls durchzuckt sie wie ein heißer Stromstoß eine Überlandleitung. »Kommen Sie schon, spucken Sie’s aus. All diese Himmelskarten und Teleskope, die vielen Bücher – das müssen doch über tausend sein.«
    Jetzt ist Julian an der Reihe, der Ball ist bei ihm, er hat festen Boden unter den Füßen. »Ich bin Astronom, wenn Sie’s genau wissen wollen.«
    Sie sagt gar nichts, betrachtet ihn nur abwartend mit diesem brennenden Messiasblick.
    »Also, eigentlich ist es eher ein Hobby – aber immerhin gebe ich einen Kurs darüber, jeden Mittwochabend in der Volkshochschule.«
    Der Blick packt ihn. »Ich hab’s gewußt. Ihr Intellektuellen, ihr seid die Schlimmsten, die Allerschlimmsten.«
    »Aber, aber« – ohne es zu wollen, stottert er –, »um mich geht es ja gar nicht, es geht um Marsha.«
    »Ja, ja«, erwidert sie und sammelt sich, gewandt wie eine flinke Schlange, zum Zustoßen bereit. »Das kenne ich alles. Zu jedem Tanz gehören zwei, Mr. Laxner: der pathologische Sammler und derjenige, der es zuläßt. So oder so ist es Ihre Schuld. Fragen Sie Ihre Frau nicht, sagen Sie es ihr. Übernehmen Sie die Initiative.« Indem sie ihm den Rücken kehrt, als wäre die Sache erledigt, stellt sie die Aktentasche auf mehrere übereinandergestapelte Ottomanen, zieht einen Notizblock hervor und schreibt in mikroskopisch kleiner Schrift eine Zahlenreihe nieder. Ohne aufzusehen, fährt sie plötzlich zu ihm herum. »Haben Sie geerbt?« fragt sie.
    Und er antwortet, ohne nachzudenken. »Ja. Von meiner verstorbenen Mutter.«
    »Gut«, sagt sie, »das ist gut so. Aber bevor wir hier weitermachen, möchten Sie vielleicht eine kleine Geschichte hören, die mir einer meiner Kunden erzählt hat, ein Journalist, dessen Namen Sie bestimmt kennen würden...« Wieder zuckt ihr Blick, die Augäpfel pulsieren, als wären sie elektrisch geladen. »Also, der war vor ein paar Jahren in Äthiopien – in der Provinz Eritrea, während des Bürgerkriegs. Er war auf der Suche nach Flüchtlingen für ein Interview, und ein Gewährsmann brachte ihn zu einem jungen Paar mit drei Kindern, vor dem Krieg Kornhändler, obere Mittelschicht, hatten sogar ein Auto gehabt. Na ja, sie waren mit dem Interview einverstanden, weil er ihnen ein bißchen was dafür zahlte und sie seit einer Woche nichts gegessen hatten, aber als es soweit war, machten sie einen Rückzieher. Und wissen Sie, warum?«
    Er weiß es nicht. Doch das