Fleischeslust - Erzaehlungen
Julian, »na gut, das werden wir ja sehen. Wir werden es ja sehen.« Und er zieht sich direkt vor ihnen an, wütend und unerschrocken, die Hände an Knopf und Reißverschluß bebend, bevor er in den Korridor hinaustritt und sich auf die Suche nach Susan Certaine macht.
Das Problem ist nur, daß er sie nicht finden kann. Das Haus, das auch in seinen besten Zeiten schwer zu begehen war, kommt ihm vor wie der Laderaum eines sinkenden Schiffes. Chaos überall. Düsteres Gemurmel erhebt sich und umfaßt ihn allmählich: Rufe, Flüche, Staub in der Luft, knarzende Dielen und dazu alle möglichen Objekte verschiedener Form und Größe, die in bizarrer Folge an ihm vorbeitreiben. Susan Certaine ist weder in der Küche noch vor dem Haus, noch in der Garage, beim Swimmingpool oder im Gästeflügel. Schließlich hält er in seiner Frustration einen Arbeiter an, der eine chinesische Vase über der Schulter trägt, und fragt ihn, ob er seine Chefin gesehen habe. Der Mann hat eine harte Miene, glühende Augen und einen Schnurrbart, der so dick ist, daß sein Mund fast darunter verschwindet. »Wer sind denn Sie?« knurrt er.
»Ich bin der Besitzer.« Julian verspürt einen leichten Schwindel. Er könnte schwören, daß er die Vase noch nie zuvor gesehen hat.
»Der Besitzer von was?«
»Wie meinen Sie das – der Besitzer von was? Das alles hier« – er deutet auf das wüste Gewirr von Teppichen, Lampen, Möbeln und Nippes –, »dieses Haus. Das, das ist meines –«
»Sie wollen mit Ms. Certaine reden«, unterbricht ihn der Mann. »Die wird im oberen Stock sein. Probieren Sie’s im Arbeitszimmer.« Und dann ist er weg, trägt seine Last zur Tür hinaus.
Sein Arbeitszimmer? Aber das ist doch Julians Zufluchtsort, der einzige Raum im Haus, wo man Atem holen, ein Buch im Regal, einen Stuhl zum Sitzen finden kann – dort hat er seinen Schreibtisch, seine Fernrohre, seine Karten. Organisation hat sein Arbeitszimmer doch überhaupt nicht nötig. Was glaubt sie eigentlich? Er nimmt zwei Stufen auf einmal, weicht mehreren mit Artefakten beladenen Certaine-Arbeitern aus und stürzt dann in sein Zimmer. Es ist bereits halb ausgeräumt, und an seinem Schreibtisch sitzt Susan Certaine.
»Aber, aber was machen Sie denn hier?« ruft er aus und hält sein Fernrohrstativ fest, während ihn einer der kräftigen Männer in Schwarz unwillkürlich mit dem Ellenbogen beiseite knufft. »Dieses Zimmer braucht das nicht, dieses Zimmer ist tabu, es ist meins...«
»Meins?« äfft ihn Susan Certaine nach und springt dabei unvermittelt auf. »Habt ihr das gehört, Fernando? Mike?« Die beiden halten inne und grinsen boshaft, auch die verschrumpelte Asiatin – die sich jetzt hier zu schaffen macht – lacht kurz und verächtlich auf. Susan Certaine durchmißt den Raum mit zwei Schritten, reckt Julian ihr Kinn entgegen und zwingt ihn so, ein Stück zurückzuweichen. »Hören Sie sich doch selbst mal zu: ›Meins, meins, meins.‹ Merken Sie nicht, was Sie da sagen? Marsha ist nur die Hälfte des Problems, wie in jeder kodependenten Beziehung. Haben Sie etwa gedacht, Sie könnten Ihre Probleme lösen, indem Sie nur ihre Sachen wegbringen, nur sie leiden lassen – während Sie Ihre kostbaren kleinen Sternkarten, Ihre schimmligen Bücher und was sonst noch alles unangetastet behalten dürfen? So dachten Sie sich das also?«
Er spürt die Blicke der kräftigen Männer. Am anderen Ende des Zimmers, vor dem Bücherregal, klebt die Asiatin Etiketten auf seine Erstausgabe von Percival Lowells Der Mars und seine Kanäle , auf das Astrolabium, das einmal im Besitz von Kapitän Joshua Slocum war, auf das Starview-Teleskop, das ihm seine Mutter zum zwölften Geburtstag geschenkt hat. »Nein, aber, aber...«
»Wäre das denn fair, Mr. Laxner? Wäre es gerecht? Na?« Sie wartet seine Antwort nicht ab, sondern richtet die Frage statt dessen an ihre zwei Schergen. »Findet ihr das fair, Mike? Fernando?«
»Kein Gewinn ohne Verlust«, sagt Mike.
»Amen«, pflichtet Fernando bei.
»Hören Sie«, platzt es aus Julian heraus, und jetzt ist er wütend, so wütend, wie er noch nie gewesen ist. »Mir ist egal, was Sie sagen – ich bin der Chef hier, und ich verlange, daß alles hier bleibt, so wie es ist. Sie da – stellen Sie das Stativ wieder hin!«
Niemand rührt sich. Mike sieht zu Fernando, Fernando sieht zu Susan Certaine. Nach einem Augenblick legt sie die Hand auf Julians Arm. »Sie sind nicht der Chef hier, Julian«, sagt sie aus der Tiefe ihrer Kehle
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