Fleischeslust - Erzaehlungen
griff nach ihrem Koffer. Ich war gelähmt. Ich war tot. Ich sah zu, wie sie sich mit ihren Sachen abmühte, sah zu, wie sie mit der Tür kämpfte, und dann, während die plötzliche Helligkeit der Dunkelheit wich, sah ich der Tür beim Zufallen zu.
Ehrenwerte Gesellschaft
Als Santo R. letzten Herbst in meine kleine Praxis in Partinico kam, erkannte ich ihn kaum wieder. Er war ein korpulenter Bursche gewesen, einer der wenigen in diesem knochentrockenen Land, und später ein ziemlich stämmiger junger Mann. Ich erinnerte mich an seine Eltern – Bauern, arm wie die Kirchenmäuse – und daran, wie ich ihn wegen der normalen Kinderkrankheiten behandelt hatte – Röteln, Windpocken, Ziegenpeter –, und wie schon damals vom geringsten Druck meiner Finger weiße Flecken auf seinen kräftigen Oberarmen und Schenkeln zurückgeblieben waren. Aber wenn er damals dick gewesen war, dann wirkte er jetzt, im Alter von neunundzwanzig, wie ein schwangeres Muli, so fett, daß er kaum noch durch die Tür kam. Er atmete schwer, erstickte fast am Staub der Straße, und er war schweißnaß. »Doktor«, keuchte er und bohrte sich dabei den Daumen in die Tiefe seines linken Brustmuskels, direkt oberhalb des Herzens, »es tut mir hier weh.« Heftiges Einatmen, Betupfen der Stirn, ein Zucken. Seine aufgedunsene, bleiche Hand senkte sich auf die gewaltige Wanne seines Bauches. »Und hier«, flüsterte er.
Durch die offene Tür hinter ihm sah das ganze Wartezimmer, die Ladenbesitzer, Witwen und Hypochonder, ehrfurchtsvoll zu, wie ich Crocifissa, meiner Sprechstundenhilfe, bedeutete, die Tür zuzumachen und uns allein zu lassen. Mochten meine Patienten auch beeindruckt sein – da kam dieser Mann von Ehre, in Begleitung seiner zwei untersetzten Leibwächter, die Treppe zur Praxis herauf und quer durchs Wartezimmer gewatschelt, ohne auf irgendwen oder irgendwas zu warten –, ich aber war eigentlich nur besorgt über seinen Zustand. Zwischen Arzt und Patient besteht schließlich eine Bindung, die weitaus tiefer reicht als die Welt des Bekommens und Behaltens, von Gewalt und Macht und Ehre und all dem Mist, der damit zusammenhängt – und für den Patienten endet das eigene Selbstwertgefühl ohnehin, wenn er von Angesicht zu Angesicht dem Mann gegenübertritt, der ihm das Rektalthermometer einführt oder mit dem gummibewehrten Finger nach der Prostata tastet.
»Don R.«, begann ich, erhob mich vom Schreibtisch und schob mir dabei das Stethoskop zurecht, »ich sehe, daß Sie leiden – aber seien Sie unbesorgt, Sie sind hier am richtigen Ort. So, und jetzt wollen wir mal sehen...«
Ich untersuchte ihn, und er war ein vollkommenes, totales körperliches Wrack, wie ich es in meiner Praxis noch nie bei einem Mann unter Siebzig erlebt hatte. Die Schmerzen in der Herzgegend, die unterhalb des Brustbeins begannen und in den linken Arm bis zum Handgelenk und zum kleinen Finger ausstrahlten, waren symptomatisch für einen Angina-pectoris-Anfall, was auf vorzeitige Arteriosklerose hindeutete; Leber und Milz waren vergrößert, er litt an hohem Blutdruck und Magengeschwüren, und wenn er nicht bereits ein voll entwickeltes Lungenemphysem hatte, war er doch auf dem besten Wege dazu. Jedenfalls war das meine vorläufige Diagnose – sobald wir die Laborergebnisse hätten, würden wir es genauer wissen.
Crocifissa kam herein, um mir zu sagen, daß Signora Malatesta im Wartezimmer eine Art Anfall hatte, und als sich die Tür hinter ihr wieder schloß, sah ich, wie sich einer von Santos Leibwächtern über die alte Dame beugte und ihr behutsam auf den Rücken klopfte. »Momento« , rief ich hinaus und wandte mich dann mit meiner ernstesten Miene an Santo. »Sie sind ganz und gar nicht gesund, Don R.«, sagte ich, »und ich kann mir das nur mit Ihrer Lebensweise erklären. Sie sind Raucher, nicht wahr?«
Ein Knurren. Die plumpen Finger fuhren in die Brusttasche des Jacketts und zogen ein graviertes Zigarettenetui hervor. Mit eleganter Geste bot er mir eine Lucky Strike an; als ich ablehnte, zündete er sich selbst eine an. Eine Weile sinnierte er über meine Frage, die Lunge voll Tabakrauch. Schließlich zuckte er die Achseln. »Zwei bis drei Schachteln pro Tag«, rasselte er und fügte ein leises Hüsteln an.
»Und der Alkohol?«
»Was soll das, Doktor, sitze ich hier im Beichtstuhl?« grummelte er und fixierte mich aus seinen gefährlichen schwarzen Augen. Doch dann gab er nach und zuckte wieder die Achseln. »Zu den Mahlzeiten je einen Liter
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