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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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aber ich zauderte angesichts dieser bebenden Flüsterstimme. »Irina, hör mal, wegen gestern abend... Ich möchte dir sagen, es tut mir leid.«
    »Ist kein Problem«, sagte sie. Und dann, nach einer Pause: »Ich lasse dir fünfzig Dollar hier, Casey. Auf dem Küchentisch.«
    »Wie meinst du das?«
    »Ich gehe weg, Casey. Ich weiß, wann ich nicht erwünscht bin.«
    »Nein, nein – ich wollte doch nicht... ich meine, ich war wütend, ich war sauer, sonst nichts. Du bist erwünscht. Das bist du, wirklich.« Ich flehte sie an, und während ich noch flehte, hörte ich, daß ich unbewußt etwas von ihrer Sprechweise angenommen hatte, meine Sätze etwas zu steif formulierte, irgendwie russisch. »Hör zu, jetzt warte einen Moment, bitte. Ich fahre jetzt gleich von der Arbeit nach Hause. Ich bringe dich, wohin du willst – zum Flughafen? Zum Busbahnhof? Wohin du willst.«
    Nichts.
    »Irina?«
    Ein ganz dünnes Stimmchen: »Ich werde warten.«
    Ich ging an diesem Abend italienisch essen mit ihr, in Harrys Restaurant, und sie war fröhlich, strahlend, fast schon überdreht – die ganze Zeit grinste sie mich an, und was ich auch sagte, immer war es das Lustigste, was sie je gehört hatte. Sie schnitt ihr Kalbfleisch in feine Streifen, plapperte in fließendem Italienisch auf den Kellner ein und kippte ein Glas Chianti nach dem anderen, während sie mir dauernd Küsse zuwarf und ihre Finger in meine verschlang, als wären wir zwei Sechzehnjährige beim Schaufensterbummel. Mir war das egal. Es war unsere Versöhnung, und über dem Tisch hing der Dunst der Sinnlichkeit.
    Beim Dessert – Millefoglie, dazu Cappuccino und Grand Marnier – beugte sie sich zu mir und gestattete mir einen genauen Blick auf ihre verschwollenen Augen. Die Lichter waren gedämpft. Sie sprach im Flüsterton. Ich erwartete zu hören: »Willst du nicht mich jetzt ins Bett bringen?« Doch sie überraschte mich. Sie räusperte sich und begann mit verwegener Miene: »Casey, ich überlege« – Pause –, »glaubst du, ich soll mein Geld lieber in Anleihen oder in einem Investmentfonds anlegen?«
    Ich wäre kaum verdutzter gewesen, wenn sie mich gefragt hätte, wer bei den L.A. Dodgers am dritten Mal spielte. »Wie?«
    »Die beste Wertentwicklung hat der Magellan-Fonds, meinst du nicht?« flüsterte sie, und das Reden über Geld machte ihre Stimme irgendwie noch sinnlicher. »Andererseits setzt sich der Gründer jetzt bald zur Ruhe, stimmt’s?«
    Mich überkam plötzlich die Wut. Nahm sie mich aus, oder was? Sie hatte also Geld zum Anlegen, und dennoch akzeptierte sie Kost und Logis und alles andere von mir, als wäre es ihr gottgegebenes Recht? Ich starrte grimmig in meinen Capuccino und knurrte: »Zum Teufel, keine Ahnung. Warum fragst du mich das?«
    Sie tätschelte mir die Hand und hauchte dann mit einem verklingenden Seufzer: »Vielleicht ist nicht die richtige Zeit.« Ihre Lippen formten einen kleinen Schmollmund der Zerknirschtheit. Und dann, fast im selben Moment, wurde sie wieder fröhlich. »Es ist noch nicht so spät, Casey«, sagte sie, stürzte ihren Grand Marnier hinunter und stand auf. »Willst du nicht mit mir ins Odessa gehen?«
    Das Odessa war ein Club in Fairfax, in dem sich russische Emigranten jeden Alters an langen Tischen wie in einer Mensa versammelten, um schmalzigen Schlagersängern und drittklassigen Komikern zuzuhören. Sie tranken warme Cola und Wodka aus Wassergläsern – die Cola in der linken, den Wodka in der rechten Hand, immer abwechselnd –, sangen bei den rasenden Tatarenrhythmen der Kapelle laut mit, erhoben sich von den Tischen und wirbelten durch den Raum. Wir blieben bis nach der Sperrstunde, tanzten, bis wir schweißnaß waren, und schluckten genug Wodka, um eine 747 vollzutanken. Im Lauf des Abends tranken wir auf Gorbatschow, Mischa Baryschnikow, die Mädchen von Tiflis, Leningrad und Murmansk, auf die Gesundheit jedes einzelnen Anwesenden, mindestens je dreimal. Auf der Heimfahrt verlor Irina im Auto die Besinnung, und der Abend endete damit, daß sie sich in einem mächtigen Schwall in den Ficustopf übergab und ich ihr ins Bett half wie einer Invaliden.
    Am nächsten Morgen fühlte ich mich ziemlich bedient und meldete mich bei der Arbeit krank. Als ich endlich aus dem Bett kroch, gegen Mittag, war Irinas Tür immer noch zu. Ich kochte gerade Kaffee, als sie durch die Küchentür wankte und sich auf einen Stuhl fallen ließ. Sie trug ein zerknittertes Hauskleid und sah aus, als hätte man sie beerdigt und

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