Fleischeslust - Erzaehlungen
Herbst hatte es praktisch keine Schnecken gegeben. Doch vor kurzem, nach einem unerwarteten Wolkenbruch, war Gaspare Pantaleo, ein armer Mann, der alles tun muß, um irgendwie zurechtzukommen, losgezogen, um Schnecken für einen Eintopf zu sammeln, damit seine Kinder etwas zu essen hätten. An der Flußböschung wußte er eine Stelle, wo ein Haufen Steine aufgeschichtet war, um das Unterspülen des Ufers aufzuhalten. Obwohl das Land Privatgrund war, gehörte es weder zu den Familienbesitzungen der C.s noch der R.s. Dort erwischte ihn Miraglia Sciacca. Offenbar kannte auch Sciacca diesen Platz, eine geschützte, feuchte Stelle, wo sich die Schnecken zwischen den Steinen geradezu zusammenklumpten, und auch er war losgezogen, um Schnecken für einen Eintopf zu sammeln. Seine Kinder – acht an der Zahl und alle mit dem gleichen Grünstich im rechten Auge – hatten ebenfalls Hunger, immer Hunger. Wie Pantaleo lebte auch er knapp am Minimum, sammelte Schnecken, fing Frösche, Glasaale und Singvögel, pflückte Borretsch, wilden Spargel und alles mögliche andere, um seine Speisekammer aufzustocken. Jedenfalls gab es eine Auseinandersetzung wegen der Schnecken, ein Wort gab das andere, und als Miraglia Sciacca wieder zu sich kam, lag er im Schlamm, zwischen den Beinen ungefähr tausend zerquetschte Schnecken.
Zwei Tage danach marschierte er mit einem alten Karabiner zum Haus von Pantaleo und erschoß die ersten zwei Hunde, die ihm über den Weg liefen. Gaspare Pantaleos Bruder Filippo übte prompt Rache, indem er das Schwein der Sciaccas vergiftete, und dann sandte Rosario Bontalde, Miraglia Sciaccas angeheirateter Onkel, den Pantaleos als scheinbares Friedensangebot einen zehnpfündigen Käselaib. Doch der Käse war verhext – man bedenke, diese Geschichte erzählt Santuzza –, in innerhalb einer Woche verlor Girolama Pantaleo, Gaspares älteste Tochter und eine der wirklich erstaunlichen Schönheiten der Provinz, ihr gesamtes Haar. Persönlich tippte ich auf Ringwürmer oder vielleicht eine ernährungsbedingte Mangelerscheinung, doch wollte ich Santuzza nicht unterbrechen, und so aß ich stillschweigend meine Suppe.
Anscheinend spitzte sich die Sache zu, als Gaspare Pantaleo zum Haus der Sciaccas gestürmt kam, um die Aufhebung des Zaubers zu verlangen – den Käse hatten sie längst weggeworfen, aber in solchen Fällen verweilt der Zauber, so versicherte mir Santuzza, bei allen, die davon gegessen haben. Miraglia Sciacca war gerade draußen im Hof, keine fünf Schritte von der Straße entfernt, und hackte Olivenholz, um für den nächsten Winter einen Stapel neben dem Zaun aufzuschichten. »Du schwuler Gangster«, klagte ihn Gaspare Pantaleo an, so laut, daß alle Nachbarn im Umkreis von einem Kilometer es hören konnten. »Ich verlange von dir, daß du deinen Zauber von dem Käse nimmst.«
Miraglias einzige Antwort war ein rüdes Schimpfwort.
»Na gut, du Hurensohn, dann werd ich’s eben aus dir rausprügeln«, brüllte Gaspare, legte die Hand auf den Zaunpfosten, um sich hinüberzuschwingen, und in diesem Moment fuhr Miraglia Sciacca, ohne eine Sekunde zu zögern, mit seiner Axt drein und hackte Gaspare Pantaleo die rechte Hand am Unterarm ab. Das war schlimm genug, aber es kam noch schlimmer: was die ganze Pantaleo-Sippe vollends erboste, was sie so weit trieb, daß sie Don Bastiano C. als Vermittler anrief, war der Umstand, daß die Sciaccas sich weigerten, die Hand zurückzugeben. Nach dem, was Santuzza von Rosa Giardini, einer guten Bekannten der Sciaccas, gehört hatte, bewahrte Miraglia die Hand in einem Glas auf dem Kaminsims auf und holte sie bei jedem Anlaß herunter, um sich vor Gästen seiner Kühnheit zu rühmen.
Drei Wochen vergingen, die Sonne stand beständig am Himmel, obwohl inzwischen längst Regen zu erwarten gewesen wäre, und ich hörte nichts von den verfeindeten Parteien. Einmal, als ich abends im Café saß, sah ich Santo R., aber wir sprachen nicht miteinander – er stand zusammen mit seinen beiden elefantenhaften Leibwächtern auf der Straße und bückte sich gerade ächzend, um den Unterboden seines Wagens auf Sprengstoffpakete zu untersuchen, ehe er sich in den Fahrersitz zwängte, den Motor aufheulen ließ und in einem Zyklon aus Laub und aufwirbelndem Kehricht davondonnerte. Ironie des Schicksals, daß gerade Schnecken die Ursache für die Differenzen und eine weitere Belastung des ohnehin prekären Gesundheitszustands zweier Männer von Ehre, Don Santo R. und Don Bastiano C.,
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