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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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oder dem Mädchen, das die Zunge nicht herausstrecken will.
    Keine Antwort.
    Das Schweigen paßte nicht zu ihm. Ich kannte ihn als cholerischen Typ, der immer sofort seine Meinung sagte, ja sogar ausfällig wurde und Wutausbrüche hatte – in den frühen Tagen unserer Bekanntschaft, als er ein verwöhntes Jungchen war und bei seinen Eltern wohnte, ebenso wie später, als er sich allmählich einen Namen machte, erst als Aufseher auf den Gütern des großen Buschetta, später selbst als Mann von Ehre. Er war niemand, der mit irgendwas hinter dem Berg hielt.
    Ich schob die Dinge auf meinem Schreibtisch zurecht, nahm die Brille ab und putzte sie mit einem Taschentuch. Bastiano C. war sechs- oder siebenundzwanzig, etwa in dieser Preisklasse, und bisher war seine medizinische Vorgeschichte eher unauffällig gewesen, soweit ich wußte. Sicher, er hatte die üblichen Tripper gehabt, ein paar Stich- und Schußwunden, aber nichts, was den körperlichen Ruin, den ich jetzt vor mir hatte, auch nur ansatzweise erklären konnte. Ich hörte, wie die Uhr auf dem Platz die Stunde schlug – es war vier Uhr nachmittags und heißer, als es sich selbst Dante je vorgestellt hatte –, dann versuchte ich es ein letztes Mal. »Also, Don C., Sie fühlen sich elend. Möchten Sie mit mir darüber reden?«
    Er zog eine säuerliche Miene, die frühere Attraktivität war aus seinem Gesicht herausgepreßt wie Grappa aus dem Trester. Er kratzte sich nachlässig am Hintern, ließ sich auf den Stuhl nieder, als wäre er mit Federn ausgestopft, und beugte sich vor. »Gastro-vital«, sagte er, die Silben klangen feucht und schrill, als lutsche er sie aus wie Pastillen. »Gegen das Sodbrennen. Doktor, ich ernähre mich von dem Zeug. Ich atme es, trinke es literweise, es pulsiert in meinen Adern. Sogar meine Scheiße hat die Farbe von Gastro-vital.«
    »Aha, Sie haben es also mit dem Magen«, sagte ich und erhob mich mit baumelndem Stethoskop, doch er bedeutete mir, mich wieder zu setzen. Er war noch nicht bereit, sich mir und meinen diagnostischen Möglichkeiten zu öffnen.
    »Ich sage Ihnen, Doktor«, sagte er, »ich esse nichts, trinke nichts, rauche nichts. Mein Geschmackssinn ist futsch, meine Freude am Leben ist so tot wie die schwarze Katze, die wir Miraglia Sciacca über die Tür genagelt haben. Ich nehme zwei Bissen Pasta mit ein wenig Butter und geriebenem Romano zu mir, und es ist, als würde mir jemand ein Messer in den Bauch rammen.« Er sah kläglich zu Boden und bearbeitete die Knöchel seines linken Handgelenks, bis sie klapperten wie Würfel in einem Würfelbecher. »Und wissen Sie, warum?« fragte er schließlich.
    Ich wußte es nicht, aber ich hatte einen Verdacht.
    »Santo R.«, sagte er ganz langsam, um Gift in seine Stimme einspritzen zu lassen. »Dieser fettärschige Dreckskerl.«
    Bei Hammelkotelett und einer Schüssel Bohnensuppe besprach ich am Abend die Situation mit meiner Haushälterin. Santuzza ist eine ungebildete Frau und von den Zehen bis zum Scheitel mit dem abergläubischen Plunder vollgestopft, von dem die sizilianische Bauernschaft befallen ist wie von einem erblichen Defekt (einmal habe ich sie dabei erwischt, wie sie Fuchstalg auf ihre verwachsenen Füße rieb und dabei in einem leisen, stöhnenden Singsang ein Salve Regina rückwärts aufsagte), aber sie besitzt eine beunruhigend allumfassende Kenntnis von sämtlichen Kabbeleien, Fehden und Sexskandalen nicht nur in Partinico, sondern der gesamten Provinz Palermo. Sobald ich zu meiner Praxis aufbreche, hängt sie am Telefon – mit dem Hörer am Ohr kocht sie, fegt den Boden, macht den Abwasch und zieht die Betten ab, und die ganze Zeit über horcht sie auf das beharrliche Brabbeln des Telefons. Den ganzen Tag lang Klatsch, Klatsch, Klatsch.
    »Die zwei hatten einen großen Krach«, sagte Santuzza, stellte mir einen Laib Brot hin und goß mir aus der Karaffe von der Anrichte nach. »Sie wurden nämlich beide gebeten, den Streit zwischen Gaspare Pantaleo und Miraglia Sciacca zu schlichten.«
    »Aha«, murmelte ich, brach ein Stück Rinde ab und fuhr damit nachdenklich rund um den Tellerrand, »das hätte ich mir denken können.«
    Nach dem, was Santuzza mir erzählte, war der Zwist zwischen Pantaleo und Sciacca, die jeweils Pächter auf den Ländereien von C. beziehungsweise R. waren, wegen der Schnecken entstanden. Es war ein trockenes Jahr, noch dazu direkt nach dem allertrockensten, an das man sich seit Menschengedenken erinnern konnte, und im vergangenen

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