Fleischeslust - Erzaehlungen
gewesen waren, denn inzwischen gab es nirgends Schnecken, weder für Liebe noch für Geld. Keine Trattoria, kein Café und kein Straßenhändler hatten sie im Angebot, und die unglaubliche Sonne hing immer noch am Himmel wie eine glühende Kohle.
Es war ein sengend heißer Tag gegen Ende November, kein Regen in Sicht, nur der Schirokko riß erbarmungslos an den verdorrten Zweigen der Bäume, als Santo R. erneut in meiner Praxis auftauchte. Es war wenig los – Krupp und Bronchitis, Erkältung und Grippe sind ebenso auf Regen angewiesen wie die Schnecken –, und ich starrte gerade aus dem Fenster auf ein Bussardpärchen, das über dem Schlachthaus Spiralen zog, als er sich mit einem leisen Hüsteln bemerkbar machte. »Don R.«, begrüßte ich ihn und erhob mich mit einem Lächeln, doch dieses Lächeln dürfte mir auf den Lippen gefroren sein – so schockiert war ich über seinen Anblick. Hatte er vor einem Monat schon schlecht ausgesehen, aufgedunsen und bleich und knapp vor dem Kollaps, war er jetzt so aufgequollen, daß er mich an nichts so sehr erinnerte wie an ein Grillwürstchen, das gleich platzen wird.
»Doktor«, krächzte er, und sein Gesicht wirkte wie Kreide neben dem rosaroten Rindfleischteint des Leibwächters, der ihn stützte, »mir geht’s nicht so gut.« Durch die offene Tür sah ich, wie Crocifissa sich bekreuzigte. Der zweite Leibwächter war nirgends zu sehen.
Beunruhigt eilte ich hinter dem Tisch hervor und half dem verbliebenen Gorilla, Don R. auf den Stuhl zu setzen. Seine Finger waren derart geschwollen, daß sie keine Konturen mehr hatten, und ich bemerkte, daß man ihm die Schnürsenkel herausgenommen hatte, um den Füßen mehr Platz zu verschaffen. Das war keine normale Fettleibigkeit mehr, sondern ein Zeichen, daß etwas ganz fürchterlich verkehrt war. Generalisiertes Ödem, Atemnot, Herzarrhythmien – der Mann war eine wandelnde Zeitbombe. »Don R.«, sagte ich und neigte mich vor, um das unregelmäßige Pochen und Pfeifen seines Herzens abzuhören, »Sie nehmen doch Ihre Medikamente, oder?« Ich hatte ihm Nitroglyzerin gegen die Angina pectoris, ein Diuretikum und Betablocker gegen die Hypertonie verschrieben und ihm strikt von Salz, Alkohol, Nikotin sowie gesättigten Fettsäuren abgeraten.
Santos Lider waren geschlossen. Jetzt schlug er sie auf, trat in Blickkontakt mit seinem Leibwächter und beorderte ihn ächzend aus dem Zimmer. Als die Tür sich schloß, stieß er einen tiefen, weltverdrossenen Seufzer aus. »Ein guter Mann, der Francesco«, sagte er. »Ist so ziemlich der einzige, den ich noch habe. Frau und Kinder mußte ich wegschicken, bis diese Geschichte vorbei ist, und Guido, mein zweiter Mann... tja« – er hob die Hand und ließ sie fallen wie eine Guillotine –, »niemand lebt ewig.«
»Hören Sie mir zu, Don R.«, sagte ich, streng jetzt, am Ende meiner Geduld, »Sie haben Ihre Medikamente nicht genommen, habe ich recht?«
Keine Reaktion. Ebensogut hätte ich mit einem Baumstumpf reden können oder mit einem Zaunpfosten.
»Und der Alkohol, die Zigaretten, die Süßigkeiten und so weiter?«
Achselzucken. »Ich bin müde, Doktor«, sagte er.
»Müde?« entrüstete ich mich. »Das glaube ich gern, daß Sie müde sind. Ihr Organismus ist total entkräftet. Sie sind ein Wrack. Sie setzen bereits Ihr Leben aufs Spiel, wenn Sie Treppen steigen. Aber Sie sind ja nicht für einen Vortrag hergekommen, deshalb werde ich Ihnen auch keinen halten – nein, ich werde jetzt ans Telefon gehen und im Krankenhaus anrufen. Ich weise Sie noch heute nachmittag ein.«
Er riß die Augen, die wieder zugefallen waren, weit auf. »Nein, Doktor«, rasselte er, und seine Worte kamen als langsame, stetige Prozession, »Sie rühren diesen Hörer nicht an. Haben Sie den Verstand verloren? Wissen Sie, wie lange ich in einem Krankenhaus überleben würde? Bastiano hätte mich wie einen Räucherschinken aufgehängt, ehe die Nacht vorbei wäre.«
»Aber Ihr Blutdruck ist kurz vorm Explodieren, Sie könnten –«
»Auf den Blutdruck ist geschissen.«
Stille. Der Schirokko, so spät für die Jahreszeit, schepperte an den Fensterscheiben. Der Deckenventilator quietschte in den Kugellagern. Dann sprach Don R., heftig und emotional. »Doktor«, begann er, »Doktor, Sie kennen mich schon mein ganzes Leben – ich bin ja noch keine dreißig, aber ich fühle mich wie hundert. Wissen Sie, was es braucht, wenn man in diesem Land ein Mann von Ehre sein will?« Seine Stimme versagte. »All die
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