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Fleischeslust - Erzaehlungen

Fleischeslust - Erzaehlungen

Titel: Fleischeslust - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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beträchtlichen Portion Ehrerbietung.

Höhere Gewalt
    Er war früher schon verheiratet gewesen, und jetzt war er es wieder. Dixie, die letzte Frau, hatte sich das Haus, das Auto, den Hund, den Mixer und seine Schallplattensammlung von Glenn Miller und Tommy Dorsey genommen. Die Frau vor ihr, Margot, war seine erste gewesen; er hatte sie bereits gekannt, als er mit Schulterpolstern und Spikes übers Footballfeld gesprintet war und sie an der Seitenlinie seinen Namen skandiert hatte, die großen schokobraunen Augen weit aufgerissen, der schwarze Bubikopf wie ein Fransenvorhang über der Stirn; sie hatte sich das erste Haus, die Kinder und seine Selbstachtung genommen. Muriel war anders. Sie war eine Naturkraft, eine höhere Gewalt, fordernd und unerschütterlich; eine Königin, eine Kaiserin, geboren zum Gebieten und Befehlen. Sie nahm sich alles, was noch übrig war.
    Doch das war nicht allzuviel. Willis war fünfundsiebzig – sechsundsiebzig im Oktober –, er hatte ein bißchen Geld in Anleihen, ein oder zwei Grundstücke irgendwo in der Pampa und zwei 1972er-Oltimer, Ford Fairlanes – wobei »Oldtimer« eine Umschreibung für schrottreif war –, und seine Hüftgelenke waren so wacklig, daß er nur im Stehen arbeitete, weil er Angst hatte, er könnte einmal nicht mehr aus dem Stuhl hochkommen. Aber er arbeitete. Er war Baumeister, seit sechzig Jahren im Geschäft, mit all dem Stolz und der Zwanghaftigkeit, die ihm seine Mutter in einer längst vergangenen Zeit mitgegeben hatte. Mit dem Rentnerdasein hatte er nichts am Hut, keine Golfplätze oder Clubhäuser. Wenn man nichts arbeitete, konnte man auch gleich tot sein, so sah er das. Außerdem hatte er ohnehin keine Wahl – Muriel würde ihn nie in den Ruhestand gehen lassen – nicht mal ausruhen ließ sie ihn. Sie trieb ihn an wie ein Maultier, und er senkte den Kopf und tat, was von ihm erwartet wurde.
    Muriel ihrerseits war viermal verheiratet gewesen, die derzeitige Verbindung mitgezählt. Die mittleren beiden Ehegatten hatte sie praktisch vergessen – zwei müde Männer, müde unter den Augen, im Blut, im Bett –, doch der erste war ein Heiliger gewesen. Gutaussehend, Saxophonspieler, mit welligem dunklem Haar und einem perfekten Stummfilm-Schnurrbärtchen – und außerdem noch reich. Sein Vater besaß eine ganze Sammlung von Mietshäusern und eine Ferienanlage in den Catskill Mountains, mit einem See, einem Casino und pittoresken kleinen Bungalows, die aussahen, als hätte man sie direkt in der englischen Provinz aus ihren Fundamenten gehoben und mit allem Drum und Dran an den Gaudinet Lake verfrachtet. Allein die Schultern dieses Lester Gaudinet... sie wußte wahrlich nicht, warum sie sich je von ihm hatte scheiden lassen. Natürlich, jetzt hatte sie Willis, und der war ganz in Ordnung – solange sie ihm auf den Fersen blieb. Trotzdem, wenn sie an den langen Nachmittagen bei einem Fläschchen Rotwein dasaß und Artikel aus der Zeitung ausschnitt oder in der Küche briet und kochte und buk, daß es für eine ganze Armee gereicht hätte, obwohl sie selbst keine zwei Bissen aß und auch Willis mit seinem mächtigen Appetit kaum merkliche Mengen davon vertilgte, dann sehnte sie sich manchmal doch ein ganz klein wenig nach Lester Gaudinet und der kehligen, schwungvollen Rhapsodie seines Saxophons – und daneben konnte sie den Gedanken nicht loswerden, daß das Leben sie jetzt, mit achtundsechzig, allmählich überholte.
    Es war ein schwüler, brütender Morgen Ende September, und Willis war wie üblich um sechs Uhr auf, wusch das Geschirr des Vorabends ab, kehrte den Boden und warf eine halbverzehrte Lammkeule, die mit grünlich phosphoreszierendem Flaum bedeckt war, in den Müll. Vom Rasen vor der Tür holte er die Zeitung herein und wollte es sich gerade bei einer Tasse Kaffee und einer Scheibe Toast gemütlich machen, als er merkte, daß das Biovita-Haferkleie-Gesundheitsbrot ausgegangen war. Zum allmorgendlichen Frühstück, das Willis gewissenhaft und angespannt zubereitete, ehe er zu seiner Baustelle davoneilte, aß Muriel zwei Scheiben Biovita-Haferkleie-Gesundheitsbrot, hell getoastet und ohne Butter, dazu ein Zwei-Minuten-siebenundzwanzig-Sekunden-Ei, hundertfünfzig Milliliter frisch gepreßten Florida-Orangensaft und drei fingerhutgroße Täßchen Espresso. Mochte sie schon am Abend schwierig sein, wenn er am liebsten bei einem großen Scotch mit Wasser vor dem Fernseher in einen Sessel geplumpst wäre – echt unmöglich war sie morgens, wenn

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